Rezension zu »Carl Tohrbergs Weihnachten« von Ferdinand von Schirach

Carl Tohrbergs Weihnachten

von


Weihnachtliches · Teil der Serie »Weihnachtliches« · Piper · · 64 S. · ISBN 9783492055529
Sprache: de · Herkunft: de

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Es leuchten die Kerzen, es quillt das Blut ...

Rezension vom 30.11.2012 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Rot brennen die klassischen Adventskerzen - rot ist auch das Blut. Hier kommt ein Weihnachtsbüchlein, in feinem roten Leinen gebunden, dessen Farbe Sie passend zu Ihrer jeweiligen Interpretation verstehen dürfen. Die Schrift schimmert teils in Lametta-Silber, teils in edlem Schwarz - eine Trauerkarten-Kombination. Am unteren Rand: die Silhouette eines Herrn mit Melone - schwarz wie alle bad guys und wie das Verbrechen an sich ...

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Ferdinand von Schirach, Strafverteidiger, aber eher als Autor bekannt, hat uns, wie nicht anders zu erwarten, keine festlichen, anheimelnden oder sentimentalen Geschichten mitgebracht. Fakt ist: Dies sind drei kleine Psychogramme, die uns wieder einmal in die Abgründe der menschlichen Spezies schauen lassen. Wie es seine Art ist, formuliert von Schirach ausgesprochen cool, sachlich, auf den Punkt genau, kurz und bündig. Einzig das Datum, der 22. bzw. 24 Dezember, und die Titel gebende Geschichte "Carl Tohrbergs Weihnachten" stellen einen Bezug zum Fest her.

Tatsächlich meuchelt Carl seine Mutter Stephanie, geborene Prinzessin Lychen-Helmstatt, während des Festessens. Dies erzählt uns ein Freund, der schon als Kind bei den Tohrbergs ein und aus ging. Mutter Stephanie beherrscht die mittellose Adelsfamilie fern der Realität, aber stilgerecht. Hat man kein Vermögen, lebt man halt von den Zinsen des nicht vorhandenen Kapitals. Menschen beurteilt Stephanie nach ihrem Aussehen oder dem spezifischen Geruch, und die Pinselei ihres Sohnes, der allzu gerne Maler wäre, hält sie schlichtweg für "Glump". Unter diesen Umständen bleibt dem erwachsenen Carl nur die Flucht möglichst weit weg aus diesem Umfeld. Er studiert Mathematik, wird Versicherungskaufmann und malt nebenbei weiter. Seine Spezialtechnik ist die Anamorphose, eine perspektivische Verzerrung, die schon die Künstler des Mittelalters anzuwenden wussten, um geheime Botschaften zu verschlüsseln. So ein Bild schenkt Carl seinem Freund, und der weiß es zu deuten: Carl lebt zwar jetzt in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie - und er hofft, für immer dort bleiben zu können -, doch er wusste genau, was er an jenem unfeierlich rot eingefärbten Weihnachtsabend tat ...

Ein Bäcker, eine Frau, ein Mann, ein Spaten - jeder ahnt, was kommen wird. Geradezu anonym läuft die erste Episode ab. Der Mörder muss neun Jahre in Haft, denn "es würde sich nie etwas ändern", und diese Vorhersage erweist sich als zutreffend. In der wiedererlangten Freiheit verliebt er sich, doch kommt es erneut über ihn. Jetzt hat die Frau einen Namen und der Mann eine Kette mit einem Panther-Anhänger um den Hals. Später liegt die auf dem Nachttisch des Bäckers: "Er hatte sie von Blut und Hautfetzen gereinigt" ...

Amtsrichter Seybold, der Protagonist der zweiten Erzählung, hat sein Leben ganz auf die Zeit nach seiner Pensionierung ausgerichtet. Doch was er sich vorgestellt hat, nämlich Monate in Italien zu verbringen, schafft er nicht. Schon auf der ersten Station seiner Reise, in Venedig, gibt er auf. Die Unbilden des Lebens machen ihn krank, und er kehrt an den Ort seiner Tätigkeiten zurück, ja sogar in die Amtsstuben. Dort eignet er sich alte Fälle an, um sie gewissenhaft abzuarbeiten.
Als er eines Tages zwei Autodiebe auf frischer Tat ertappt und sie in einer Garage einsperrt, bis die Polizei kommt, macht er einen kapitalen Fehler. Doch das Verfahren wegen Freiheitsberaubung wird wegen geringer Schuld eingestellt. Aber am 22. Dezember verschwindet Seybold spurlos ... Wie es weitergeht? Sorry, hier gebührt es sich zu schweigen.

Ferdinand von Schirach ist einer der ersten deutschen Autoren, die aus ihrem beruflichen Fachwissen und echten Fällen spannende, intelligente Unterhaltung geschaffen haben. Mittlerweile hat sich ein Tross von Kommissaren, Pathologen und anderen Betroffenen am Erfolgsrezept des Reality-Krimis versucht, doch nicht alles, was sie gebacken haben, erreicht die Qualität der Weihnachtsplätzchen von Schirachs. Seine Analysen sind ebenso grandios wie die dezidierte, minimalistische Darstellung. Frappiert und geschockt atmen wir am Schluss durch und müssen noch einmal darüber nachdenken, wann das Pendel in die falsche Richtung ausschlug und der ganze Tannenbaum lichterloh in Flammen aufging ...


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