Washington Black
von Esi Edugyan
Einem zwölfjährigen Sklavenjungen gelingt 1830 die abenteuerliche Flucht aus der Karibik über die Arktis nach London. Es ist eine Reise aus Enge und Unterdrückung in Weite und Freiheit der Wissenschaft. Der Weg ist steinig und schmerzvoll.
Flucht und Findung
Zu Recht hat dieses Buch einen prominenten und populären Fürsprecher gefunden. Es ist voller Abenteuer, voller schmerzlicher, glücklicher und tragischer Momente, es umspannt zwei Kontinente, es ist leicht, anschaulich und unterhaltsam geschrieben und wird auch jugendliche Leser ansprechen. Und es erzählt eine anrührende Geschichte von überindividueller Relevanz: Einem Sklavenjungen gelingt es, sich zu einem Wissenschaftler zu emanzipieren und Anerkennung zu verdienen – wirklich frei aber kann er zu seiner Zeit – Mitte des neunzehnten Jahrhunderts – nicht werden.
Der Fürsprecher ist der ehemalige US-Präsident Barack Obama. Jeden Sommer gibt er eine kleine Liste seiner Lieblingslektüren heraus. 2018 gehörte die kanadische Autorin Esi Edugyan mit ihrem Roman »Washington Black« zu seinen Favoriten. Dass das Buch, das Anabelle Assaf jetzt ins Deutsche übersetzt hat, nicht nur den Geschmack eines früheren White-House-Bewohners trifft, sondern allgemeingültigere Qualitätskriterien erfüllt, hat es auf die Shortlist des Booker Prize gebracht.
Wann und wo das elternlose Kleinkind zur Welt kam, ist unklar – 1817 oder 1818, auf Barbados oder einem illegalen Sklavenschiff. Sein Master, für den er schon als Zweijähriger auf den Zuckerrohrfeldern schuften musste, gab dem Jungen den Namen »George Washington Black«, was er nicht etwa als motivierende Anerkennung, sondern als Verhöhnung meinte. Aber egal, ohnehin rief ihn jeder »Wash«.
Nach dem Tod des Masters übernimmt dessen Neffe Erasmus sein Erbe. Die Plantage finanziert den Lebensstil der Familie Wilde in England, und der neue, von dort angereiste Herr kennt weder Maß noch Gnade. Unsägliche Züchtigungen und grausame Hinrichtungen sind an der Tagesordnung. Wash, der sich als einfacher Feldnigger bewährt hat, soll nun Erasmus’ Hausnigger werden. Die Aufgabe in intimer Nähe zum Master ist lebensgefährlich. Schon die kleinste Unachtsamkeit kann den Jungen Kopf und Kragen kosten.
Eine unverhoffte Wendung zum Positiven bringt die Ankunft von Erasmus’ Bruder Christopher. »Titch«, wie ihn seine Familie nennt, ist aufgeklärter Humanist und tritt für die Abschaffung der Sklaverei ein. Wie beider Vater, der seit Jahren in der Arktis Forschungen betreibt, ist Titch Wissenschaftler. Seine Experimente mit einem stationären Luftschiff sind bereits weit vorangeschritten, nun will er auf einer Anhöhe der Plantage Versuche mit einem mobilen »Wolkenkutter« fortsetzen. Dass er sich als Helfer ausgerechnet Wash aussucht, jagt diesem erst einmal Angst vor noch schlimmeren Qualen ein. Doch bald bewährt er sich als idealer Gehilfe. Er ist nicht nur von kleiner und leichter Gestalt, sondern seine Auffassungsgabe übertrifft alle Erwartungen. Mit Leichtigkeit lernt er schreiben und lesen, und eine außergewöhnliche Gabe als Zeichner macht ihn für die Experimente unentbehrlich.
Ein entsetzlicher Unfall macht nicht nur die gemeinsamen Zukunftspläne zunichte, sondern lädt Wash neben seinem Status als farbiger Leibeigener ein weiteres gesellschaftliches Handicap auf: Sein Gesicht ist entstellt.
Der Tod des Vaters veranlasst Erasmus, nach London zurückzukehren, während Titch der Plantage weiterhin kräftige Gewinne abpressen soll. Das widerspricht freilich gänzlich seinen Vorstellungen und Fähigkeiten, und so kommt es zu heftigen Zerwürfnissen zwischen den Brüdern. Da abzusehen ist, dass Erasmus seinen missgestalteten Sklaven niemals seinem Bruder überlassen würde, reifen Washs Pläne zu fliehen. Ganz loskommen wird er von dem hoffnungslosen Schreckensort nicht, denn der Master verfügt über Mittel, mit denen er sein lebendes Eigentum von überall her zurückholen kann.
Die abenteuerliche Tour de Force, die den Jungen von Barbados zur Arktis, über Nova Scotia nach London, Amsterdam und Marokko führen wird, beginnt gemeinsam mit Titch, einem guten Weggefährten und fähigen Retter. Doch je länger sie unterwegs sind, desto weniger kann sich Wash seines Beschützers sicher sein. Der fremdelt immer mehr, zieht sich seelisch zurück, will sein Anhängsel loswerden, entlässt ihn schließlich allein in die Freiheit.
In der Arktis erlebt der Junge, der zeitlebens nur Hitze und Zuckerrohrfelder kannte, eine unbekannte, fremdartige Welt. Sein Staunen über die dortigen Naturphänomene fließt in die Erzählung ein, aber näher am Herzen der Autorin liegt die emotionale und charakterliche Entwicklung ihres Ich-Erzählers. Ein Mensch, der im Leben nichts als Unterdrückung und Willkür zu spüren bekam, der nie seine Angst abstreifen kann und dessen schreckliche Verletzung zwar vernarbt, aber niemals heilen wird, sucht nach sich selber.
Eine Zeitlang findet Wash inneren Frieden in Nova Scotia, wo er mit dem berühmten Meeresforscher Geoffrey Michael Goff lebt, arbeitet und lernt. Er verliebt sich in dessen Tochter Tanna und sie sich in ihn, doch sie müssen ihre Gefühle verbergen, denn Tannas Vater würde diese Verbindung nicht tolerieren. Derweil entwickelt Wash ein eigenes Projekt: Er möchte der Öffentlichkeit lebende Meerestiere in großen Glasbehältern vorführen. Gemeinsam reisen alle drei nach London weiter, wo Wash auf die Realisierung seiner Pläne hofft. Frei handeln kann er dennoch auch dort nicht. Der große Goff unterstützt den gerade einmal Achtzehnjährigen zwar tatkräftig, streicht jedoch wie selbstverständlich auch Lob und Renommee ein, als sei er der Schöpfer des »Ozeanhauses«.
Wenn Esi Edugyan ihren jungen Protagonisten im Rückblick sein Leben erzählen lässt – unzweifelhaft eine beeindruckende Entwicklung vom niedrigsten Sklaven zum freien Wissenschaftler (»Ich bin ein freier Mann, ich allein bin im Besitz meiner Person.«) –, so stellt er sich immer wieder die Frage, was frei sein denn heißt, wie sich Freiheit anfühlt, an welchem Ort man sie finden könne. »Big Kit«, die das Kind auf der Plantage umsorgte, erklärte ihm einst, frei sei man, wenn man nach dem Tod in seiner Heimat erwacht (»du kannst machen, was du willst«). Im Diesseits aber behandeln ihn alle Leute, denen er begegnet, wegen seiner Hautfarbe und seiner Entstellung und ungeachtet seiner Qualitäten und Verdienste als Mensch zweiter Klasse. Gegen solche Widerstände hat er es besonders schwer, sein eigenes Ich zu stärken, seine eigene Persönlichkeit aufzubauen. Besonders schmerzlich erfährt er, dass Männer seiner eigenen Hautfarbe keine besseren Menschen sind.
Zum Ende hin schleppt sich der Roman ein wenig und wirkt mit vermeintlichen Abschweifungen unnötig aufgebläht. Dennoch erweisen sich die letzten hundert Seiten als unabdingbar, denn sie beantworten offene Fragen aus Washs Lebenslauf – und warten mit überraschenden Knüllern auf.