Vom Fliegen über Neapels Dächern
Der Ich-Erzähler ist dreizehn, hat fünf statt der obligatorischen drei Schuljahre hinter sich, zählt nun als Mann und kann Geld verdienen. Er hilft Errico, dem Schreiner, der ihm aus der Zeitung vorliest, und lernt bei ihm, geschickt, ordentlich und lebenstüchtig zu werden.
In einer Ecke der Werkstatt sitzt der alte Don Rafaniello, ein nordosteuropäischer Jude. Er versorgt das gesamte Armenviertel mit meisterlich gefertigten oder reparierten Schuhen. Verdienen will er gar nichts mit seiner Kunst - er ist zufrieden, den Krieg überlebt und in Neapel Fuß gefasst zu haben. Der Schuster mit philosophischer und theologischer Ader beeindruckt den Jungen täglich aufs Neue mit seiner heiteren Gelassenheit, seinen phantasievollen Theorien und seiner Weisheit. Rafaniè lehrt ihn Respekt und weitet seinen Horizont; er liefert die Außenperspektive auf die Stadt, rückt sie in einen universalen Kontext.
Die Familie wohnt in einem Mietshaus für Hafenarbeiter in den engen Gassen gegenüber vom Castel dell'Ovo und zu Füßen des Castel Sant'Elmo. Das Viertel heißt Montedidio ("Berg Gottes"). Das Geld ist knapp, aber mit harter Arbeit kommt man einigermaßen hin.
Das wichtigste Geschenk, das der Vater seinem Sohn macht, ist ein Bumerang, den er von einem Matrosen erhielt. Dieser "Flügel aus Holz" - seine Maserung, seine Form, sein Gewicht, sein Potenzial - beflügelt und fesselt den Jungen. Täglich geht er jetzt nach der Arbeit auf die Dachterrasse, um den Wurf zu üben. Daran wächst sein Körper, denn er trainiert ausdauernd und hart, als würde er einen Bogen spannen.
Im obersten Stock wohnt Maria, ein paar Wochen älter, aber vom Leben bereits ganz anders herausgefordert als der Ich-Erzähler, der bei seinen Eltern Anerkennung, Rückhalt und vernünftiges Essen findet.
Die beiden fassen Zutrauen zueinander, teilen ihre Geheimnisse, sind bald "verlobt ... und, ach übrigens, Maria, was machen Verlobte eigentlich?". Sie reifen nun miteinander, Maria immer ein bisschen voraus, bis beide bereit sind für den großen Tag, an dem der Bumerang fliegen wird.
Auch Rafaniello träumt vom Fliegen. In seinem Buckel, so behauptet er, wachsen ihm Flügel, die ihn einst ins Heilige Land tragen werden; je größer sie und sein Buckel werden, desto schmächtiger und leichter wird er selber. Seine Vorbereitung ist ein langsames Abschließen mit dem Leben.
Die Hauptpersonen dieses Romans sind sympathische, sensible Kunstfiguren, Sprecher voller Poesie und voller Poesie beschrieben: "Unser geflüstertes Geplauder verflüchtigt sich im Wind, der es uns von den Lippen stibitzt." Vor allem die Frauen sind stark: "Mama ist groß ... Sie verbiegt die Gabel beim Essen, wenn ihr ein schiefer Gedanke kommt." Maria, "bereits durch und durch Frau", kann der Junge blind vertrauen: "Ich frage nicht weiter, mir genügt, dass sie es weiß."
Mehr als Worte sagen Gesten: "Maria hat vor seinen Füßen ausgespuckt und ist weggegangen." - "Maria hat mit nach hinten geworfenem Kopf 'ntz' gemacht, ein ausgespucktes Nein."
Neapel erscheint fast verklärt. Unten die lebhaften Gassen, oben der Blick von der Dachterrasse. Wie schön es ist, wenn das Kind mit den stattlichen Eltern stolz am Mergellina-Ufer entlang spazieren geht, wenn sie an der Beverello-Mole die Touristen beobachten, die tomatenrot von den Inseln zurückkehren; wenn sie am Hafen staunen, was die Seeleute aus Amerika an Neuheiten mitgebracht haben - Blue jeans und Hula-Hoop-Reifen zum Beispiel ...
Das Böse wird nicht ausgeblendet: Armut, Spielsucht, Krankheit, Krieg, unbarmherzige Hausbesitzer - ach, wenn es nur dabei bliebe; aber wenigstens sind auch die fähig, an ihren Gefühlen (wenn nicht an ihrem Wesen) zu verzweifeln.
Die Romanstruktur trägt den eigenartig schwebenden, lyrischen Ton des Erzählens: Der Autor reiht kleine Szenen aneinander, selten länger als eine Seite - ein bisschen Dialog, ein paar Beobachtungen, Gedanken über die Personen und sich selber, eher assoziativ verbunden als dass ein Handlungsfaden konstruiert würde. Der Plot (der auf den Kulminationspunkt am Ende zielt) fügt sich von selbst zusammen, indem der Leser sanft folgt, selbst beobachtet, drucklos weitergleitet ...
Wer es nüchtern mag, wird mit manchen Konstrukten unzufrieden sein. Täglich trainiert der Junge Dutzende Würfe, ohne das Holz jemals loszulassen. Ihm genügt die immer gleiche Armbewegung. Was, wenn er den Wurf falsch einübt? Und weiß der Junge eigentlich, dass Bumerangs zurückkehren? Es wird mit keiner einzigen Silbe thematisiert. Am Schluss werden die Bilder unscharf, die Symbolik inkonsistent. Kleinliche Nörgelei an einem zauberhaften Buch ...
Elf Jahre nach dem Erscheinen von Erri de Lucas Roman "Montedidio" (2001 bei Feltrinelli) und acht nach seiner ersten deutschsprachigen Version ("Ich bin da", 2004 bei Rowohlt) hat der Graf-Verlag eine neue gebundene Ausgabe unter dem viel klangvolleren Originaltitel neu herausgebracht und dafür Annette Kopetzkis wunderbare Übersetzung perfektioniert. Ihr ist deutlich daran gelegen, dem deutschen Leser auch die Eigenheiten des Neapolitanischen verständlich zu machen, ebenso wie de Luca einerseits Dialekt verwendet, aber dann gleich für Nicht-Neapolitaner in "normales" Italienisch übersetzt. Wo sich etwas jedem Italiener erschließt, nicht aber dem Deutschen, liefert Kopetzki mehr, als de Luca vorgibt: "..., sodass man ihn heute Don Frettella nennt, von fretta, Eile." - "... und kocht sie in acqua pazza, einem Tomatensud mit Wein." - "... er kaufte mir einen tarallo, einen Kringel aus Castellammare."
De Luca würde sich darüber freuen. Er widmet selbst einige Passagen den Unterschieden zwischen Italienisch und dem Neapolitanischen. Die Sprache trennt die kleinen Leute von den feineren genau wie ihre Nahrung: Brasse für die ersteren, Sardellen für die anderen. Der kluge Vater, Analphabet, bestärkt seinen Sohn darin, die "Nationalsprache" zu erlernen; er weiß, dass er nur dann "Italiener sein" kann - und "mit Italienisch kann man sich besser wehren". Der Ich-Erzähler lehrt ihn die ungewohnten Vokabeln und die "korrekten" Konjugationen, aber für ihn kommt das zu spät ("'nuie non putimmo' ..., wir können nicht"), und die Mutter konstatiert: "Neapolitaner sind wir und basta". Ein "Verräter am Neapolitanischen" will der Sohn nicht werden: Er konjugiert die Dialektformen und genießt den frechen Singsang der Straßenhändler in den Gassen, mit dem man anderswo "keine Haarnadel verkaufen" könnte ...
Erri de Lucas "Montedidio" ist eine zarte, unsentimentale Liebeserklärung an Neapel, seine Gassen, seine Menschen, seine Sprache.