Das Glück ist ein Geschenk
Im Neapel der fünfziger Jahre wächst der Ich-Erzähler als Waisenkind auf. Der Roman schildert seine Kindheit und Jugend und eine Fülle von Episoden aus dem Alltag der Zeit. Der Junge lebt allein in einem Kabuff und sehnt sich danach, mit den anderen Jungen auf dem Platz vor dem Mietshaus Fußball zu spielen. Als der Ball unerreichbar auf den Balkon einer leerstehenden Wohnung fliegt, klettert er behände am Fallrohr nach oben - und wird zukünftig liebevoll à scigna gerufen (neapolitanisch für "das Äffchen"). Hinter einem Fenster beobachtet er heimlich ein Mädchen. Er kann nur ihren Kopf sehen, den sie in die Hände gestützt hält. Ob auch sie ihn beobachtet hat? Dann wirft er den Jungen den Ball zu und darf von nun an mitspielen.
Don Gaetano, der Hauswart, kennt alle Menschen des Hauses und der Nachbarschaft. Einmal am Tag bringt er dem Jungen eine warme Mahlzeit. Mit der Zeit entsteht zwischen den beiden eine vertrauensvolle Freundschaft. Don Gaetano kennt viele Geschichten, vom Krieg, von den Deutschen, den Faschisten, den Amerikanern. Der Junge ist wissbegierig und saugt alles auf, was er hören kann. Mit Begeisterung besucht er die Schule und ist überglücklich, dass ihm der Buchhändler Don Raimondo gebrauchte Bücher ausleiht.
Im Gegensatz zu Don Gaetano, der ebenfalls Waisenjunge war, aber in einem Heim leben musste, kann à scigna in allen Gassen herumstromern und auch die unterirdischen Gängen und riesigen Tuffsteingewölbe erkunden, die als Schutzräume genutzt wurden und damals vielen als Wohnungen dienten. Dabei stößt er unter einem Bretterverschlag auf ein Versteck. Mit einer Kerze klettert er durch das kleine Eintrittsloch hinab in die Tiefe und findet das Lager von Zigarettenschmugglern. Stutzig wird er, als er eine Pritsche mit Matratze, Büchern und einer Bibel entdeckt.
Spannend ist die Geschichte von einem Juden, der sich dort unten vor den Nazis verbarg und von Don Gaetano versorgt wurde. Immer voller Angst, traute er auch Don Gaetano nicht, denn wer weiß, vielleicht wollte der bloß das Kopfgeld einstecken, mit dem die Deutschen lockten. Don Gaetano verabscheut den menschlichen Dreck ('na carogna), der das Schicksal anderer zu Geld macht.
Als ich den Roman las, kam es mir oft vor, als sähe ich einen alten Schwarz-weiß-Film des Neorealismo (z.B. Vittorio De Sicas "Fahrraddiebe"), bei dem der Streifen immer wieder mal hängen bleibt: in wechselnden Handlungsmomenten, in angerissenen Lebensverläufen und kurzen menschlichen Begegnungen. Zum Beispiel hat der einfache Kleingeist La Capa, ein armer Schumacher, im Lotto gewonnen und will nun im Wohlstand als feiner Herr erscheinen. Doch bar jeder kulturellen Bildung und sprachlichen Vermögens gibt er sich der Lächerlichkeit preis. Die Stimmung in der Stadt am Vesuv ist in jener Zeit eher trüb als bunt; von blauem Meer und gleißendem Sonnenschein romantisiert noch keiner. Täglich müssen sich die Menschen auf neue Situationen einstellen und schließen sich zusammen, um sich gegen die Besatzer mit Barrikaden und vielen anderen Tricks zur Wehr zu setzen.
Gefühlvoll und einfühlsam ist die väterliche Liebe Don Gaetanos zu dem Jungen beschrieben. Er drängt sich nie auf, ist aber immer für ihn da. Er bringt ihm viel bei, alles Rüstzeug fürs Leben. Er erkennt und weiß zu schätzen, welche Qualitäten in dem Jungen stecken. "Du lernst mit Gewinn, Du hast das Zeug dazu." Das war sein größtes Kompliment, geradezu eine Auszeichnung.
Jahre später schenkt Don Gaetano dem mittlerweile jungen Mann ein Klappmesser, das er immer bei sich tragen soll. In der von mafiösen Strukturen durchsetzten Stadt Neapel bedeutet dies eine Hilfe zum Überleben, denn mit dem Rücken zur Wand ist es die einzige Lebensversicherung.
"Der Tag vor dem Glück" ist für Don Gaetano der Tag vor der Freiheit. Sie alle hatten dafür gekämpft und gewonnen. Das Glück ist ein Geschenk.
Der Junge wartet auf das Mädchen aus dem dritten Stock: Anna heißt sie. Erst wenn sie gekommen ist, wird er sagen können, was es ist, dieses Glück.
Das schmale Büchlein von 173 Seiten (Originaltitel: "Il giorno prima della felicità") ist eine prallgefüllte Schatzkammer voller beeindruckender Menschlichkeit, still und poetisch erzählt.
Erri de Luca wurde mit dem Petrarca-Preis 2010 ausgezeichnet.