1981
von Eloísa Díaz
Ein argentinischer Polizeiinspektor möchte nichts mit den Machenschaften der Diktatur zu schaffen haben. Ist das möglich?
Mit Pragmatismus den Terror überleben
Joaquín Alzada fühlt sich ausgebrannt und müde. Er ist über sechzig Jahre alt und würde jetzt gern in den Ruhestand gehen, aber die Staatsfinanzen sind zerrüttet, die staatlichen Pensionskassen ausgeraubt. Fernando de la Rúa, der Präsident der Militär-Regierung, hat radikale Sparmaßnahmen verordnet, die den Bürgern sogar verbieten, auf ihre Sparkonten zuzugreifen. Auf den Straßen von Buenos Aires demonstrieren Menschenmassen. So bahnt er sich und seinem Auto eher widerwillig und lustlos den Weg durch das »Schlachtfeld« der überfüllten Innenstadt zur »Kathedrale des Todes«, dem Leichenschauhaus, wohin ihn der Gerichtsmediziner Dr. Petacchi zu kommen gebeten hatte, um ein Mordopfer persönlich in Augenschein zu nehmen. Man begrüßt einander überschwänglich, tauscht sich ein wenig über die Familien aus, begrüßt den hinzugetretenen Hilfsinspektor, jung, dienstbeflissen, »geradlinig und gesittet«, und studiert dann die Leiche mit ihren Einschüssen in den Hinterkopf. Man hatte sie im Müllcontainer hinter dem Leichenschauhaus gefunden. Alzada wird es beim Anblick des bereits ausgenommenen, nun wieder zugenähten Körpers übel. Es ist das Jahr 2001, und zuletzt war der Inspektor zwanzig Jahre zuvor hier – »als wüsste ich das Datum nicht auf den Tag genau«, wie er sich bedeutsam erinnert.
Als Inspektor Alzada in sein Büro bei der Policía Federal Argentina zurückkehrt, erwartet ihn schon ein fein gekleidetes Ehepaar aus bester Familie – »einer der bekanntesten Großgrundbesitzer Argentiniens«. Die Frau möchte ihre Schwester Norma als vermisst melden. Die Universitätsabsolventin mit überschäumendem Temperament hatte sich schon öfter in brenzlige Situationen manövriert, auch vorbei an ihren Leibwächtern. Aber für ernste Sorgen, versucht Alzada zu beruhigen, sei es noch zu früh, solange sich Normas Abwesenheit nicht als freiwillige Eskapade einer lebenslustigen jungen Frau erweist. Doch beim ersten Blick auf das kleine Foto, das die Eheleute mitgebracht haben, schießt ihm eine Ähnlichkeit Normas mit der soeben begutachteten Leiche durch den Kopf.
Damit sind zwei Fälle eröffnet, die bald zu einem werden und Polizeiarbeit wie Plot vorantreiben. So viel darf man ruhig spoilern, denn die eigentliche Kriminalermittlung tritt im Verlauf der anfangs leicht dahinfließenden Erzählung immer weiter in den Hintergrund. Statt ihrer gewinnt die Charakterstudie des Protagonisten Joaquín Alzada im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen seit dem Jahr 1981 an Bedeutung, und mit ihnen zieht langsam wahres Grauen auf. Die Schilderung der Mittel, die die diktatorischen Machthaber eiskalt ausspielen, um Menschen und Gesellschaft ihres Landes nach ihrem Willen zu formen, kann das Blut in unseren Adern gefrieren lassen.
Schon 1976 hat eine Militärjunta die Macht in Argentinien an sich gerissen. General Jorge Rafael Videla und seine Schergen terrorisieren das Volk. Auch Inspektor Joaquín Alzada, der 1981 im Polizeidienst steht, nimmt unweigerlich wahr, wie die Milizen ihre Opfer aufs Polizeirevier bringen, vorübergehend inhaftieren, dann auf ihrem »Weg in die Hölle« weitertransportieren. Aber dabeisein will er nicht, mitmachen schon gleich nicht. Mit seiner Frau, die aus reichem Elternhaus stammt, lebt er materiell unabhängig und ohne Kinder in Buenos Aires, kann sich, wenn es unangenehm wird, davonstehlen und den Nachmittag lieber im »cafecito« verbringen. So versucht er sich einigermaßen unbehelligt durchzumauscheln, nicht instrumentalisieren zu lassen, und mit Vorsicht und einer Portion Glück wird er nicht selber als Staatsfeind denunziert und verschleppt.
Doch als eines Nachts sein eigener Bruder Jorge abgeholt wird, ist es um Joaquíns Ruhe geschehen. Er hatte das freiheitliche Engagement des sechs Jahre Jüngeren für naiv gehalten und ihm vorgeworfen, dass er seine politischen Anliegen wichtiger nehme als das Wohlergehen seiner kleinen Familie. Jorge hatte Joaquín entgegnet, dass es »nicht nur um das [geht], was man tut, sondern auch um das, was man nicht tut.« Um das Schlimmste für seinen Bruder und seine Schwägerin zu verhindern, spielt der Polizeiinspektor all seine Beziehungen aus, wagt sich bis zum Polizeipräsidenten vor, wird suspendiert, muss »bis in alle Ewigkeiten Schreibtischarbeiten verrichten« und kann doch nichts gegen die brutale Staatsmacht ausrichten.
Bei Jorges Gefangennahme blieb dessen dreijähriger Sohn Sorolla zufällig unentdeckt. Joaquín und seine Frau nehmen den Neffen zu sich und ziehen ihn groß. Über ihn wird sich ein Kreis schließen, als er 2001 in dem Alter angelangt ist, in dem sein Vater abgeholt wurde, und er auf die Straße drängt, um an den Demonstrationen mitzuwirken. Da holt die Vergangenheit Joaquín Alzada ein.
Lebhaft schildert die Autorin die brodelnde politische Atmosphäre in der Zeit der Militärdiktatur und spart deren Schrecken nicht aus. Wer die Jahre miterlebt hat, erinnert sich an die langen Listen der Vermissten, die gesungenen Anklagen der »Madres de Plaza de Mayo«, die geraubten und zur Adoption freigegebenen Kinder, die brutalen Foltermethoden in den Gefängnissen, über die auch in Europa berichtet wurde. Dennoch ist Eloísa Díaz’ Romandebüt »Repentance« in der Übersetzung von Mayela Gerhardt erstaunlich unbeschwert zu lesen.
Dafür sorgt der Protagonist selbst, dessen spontane Gedanken während diffiziler Situationen seiner beruflichen Arbeit und privaten Erlebnisse direkt wiedergegeben sind und uns seine Anschauungen und Strategien erkennen lassen. Mit nüchterner Zweckmäßigkeit hat er längst kalkuliert, dass Aufmüpfigkeit und Kritik unwägbare Risiken für Leib und Leben brächten, kluge Anpassung und pragmatisches Handeln ihn aber davor bewahren können, Schuld an den Verbrechen, die ihn umgeben, auf sich zu laden. So bleibt der geradezu perfekte Überlebenskünstler Teil eines Regimes, bei dem er nicht mitmachen will. Nur um seinem schmerzgequälten Bruder zu helfen, überschreitet er den Rubikon und dringt bis ins Innerste der Gewaltherrschaft, in die Todeszellen vor.
Neben der Ironie, mit der Joaquín Alzadas innere Kommentare die Erzählung würzen, trägt zur vermeintlichen Unbekümmertheit der Atmosphäre ein hintersinniger Sprachstil von nicht immer auf den ersten Blick erkennbaren Sarkasmen, Euphemismen (»freundlich foltern«) und vorgeblichen Verharmlosungen bei (Häftlinge werden in dunklen Kellerlöchern festgehalten, niemals in Obergeschossen, denn »man will ihnen ja nicht die Möglichkeit bieten, der Sache durch einen Sprung in die Tiefe ein schnelles Ende zu bereiten.«).
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2021 aufgenommen.