Wohin geht die Reise?
Mensur und Selma Nalbantoğlu gehören zur Mittelschicht der türkischen Gesellschaft. Viele Jahre nach der Geburt ihrer beiden Söhne Unmut und Hakan bekommen sie in den Achtzigerjahren unerwartet noch einmal Nachwuchs. Nazperi (kurz: Peri) nennen sie das Mädchen. Das Kind wächst in einem Viertel der asiatischen Seite Istanbuls als wohlbehütete Vatertochter auf, der es an nichts mangelt. Aber sie ist nicht glücklich. Denn ihr Elternhaus ist ein Kriegsgebiet, auf dem sich zwei rivalisierende, rechthaberische, gegensätzliche Partner täglich den Fehdehandschuh hinwerfen.
Gern sitzt Peri an Mensurs Seite, um seinen Geschichten, Revolutionsliedern und anatolischen Balladen über gebrochene Herzen und unerfüllte Liebe zu lauschen. Der Vater war als Schiffsingenieur weit herumgekommen, was ihn zu einem säkularen, freisinnigen Demokraten gemacht und seinen Blick auf sein Vaterland geschärft hat. In fast jedem Zimmer der Wohnung blickt ein Porträt von Kemal Atatürk aus verschnörkelten Bilderrahmen auf die Familie herab, und sogar einen Trinkbecher zieren Unterschrift und ein markantes Zitat des Begründers der modernen Republik Türkei: »Die zivilisierte Welt ist uns voraus, es bleibt uns nichts übrig, als mit ihr gleichzuziehen.« »Ohne ihn würde es bei uns zugehen wie im Iran, vergiss das nie!«, hält Mensur seiner Tochter immer wieder vor Augen. Dass er seine Wehmut über Atatürks schwindende Bedeutung, die tristen Perspektiven der Politik und die Machenschaften der Politiker mit Alkohol zu betäuben sucht, werde Allah einem ansonsten guten Mann, der nicht spielt, nicht raucht, nicht den Frauen nachjagt, gewiss nachsehen.
Mutter Selma teilt die Auffassungen ihres Mannes jedoch keineswegs. Erst kürzlich hat sie sich einem religiös motivierten männerfeindlichen Zirkel angeschlossen, gewandet sich ganz in Schwarz, so dass nur ihr Gesicht frei zu sehen ist, verweigert Männern ihre Hand zur Begrüßung oder zum Abschied. Selbst einen gerade frei gewordenen Sitzplatz im Bus würde sie nie einnehmen, wenn zuvor ein Mann darauf gesessen hat. Von heute auf morgen hat sie alle Produkte, die mit Schweinegelatine versetzt sein könnten, aus dem Haushalt verbannt, darunter auch Schuhe aus dem Ausland. Statt Zahnpasta wird jetzt ein Miswakzweig benutzt.
Die gehorsame Peri ist hin und her gerissen zwischen den widerstreitenden Botschaften ihrer Eltern. Mit ihrer Mutter betet sie heimlich zu Allah und trägt ohne zu murren Socken aus Ziegenwolle und Sandalen statt modischer Schuhe wie ihre Mitschüler. Die befremdet ihr Verhalten, und sie spötteln über Peri.
Peris ältester und liebster Bruder Unmut engagiert sich für linksliberale Politik, sein Vorbild ist Karl Marx. Als er nach einer Razzia verhaftet, zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wird und dort Demütigungen und Folter durchleidet, nehmen die Spannungen im Elternhaus noch zu. Unter gegenseitigen Schuldzuweisungen – Vater habe »die Saat der Gottlosigkeit in Unmuts Kopf gepflanzt«, Mutter sei dem von fanatischen Predigern verheißenen »Geruch des Paradieses« gefolgt, anstatt auf die realen Entwicklungen ihres Sohnes zu achten – driftet die Familie immer weiter auseinander.
Peri befallen Zustände übergroßer Angst, während denen ihr ein mysteriöses, bedrohliches Wesen, der Dschinn, erscheint. Um den Dämon zu vertreiben, bemüht Selma einen Hodscha, doch dessen Exorzismus kann nichts ausrichten. Hätte Peri die erste Koransure aufgesagt, wäre der Dschinn nie über sie gekommen. Zukünftig soll die Mutter besser auf ihr Kind aufpassen, denn es habe einen »Hang zum Dunklen«.
Peri ist verzweifelt und ratlos. Furchtbare Albträume verfolgen sie, sie versteckt sich im Kleiderschrank. In ihrer Zerrissenheit kann sie sich nicht mehr, so wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte, an Allah wenden. Wie kann er unschuldigen Menschen wie ihrem Bruder so schreckliche Dinge antun? Wie kann er zugleich nah und unerreichbar sein? »Gott ist ein Labyrinth, ... ein Puzzle, dessen Teile augenscheinlich nie zusammenpassten.« Sie muss ihr Verhältnis zu Gott neu ausrichten. Sich ganz von ihm abzuwenden, ihn einfach zu ignorieren, wie Vater ihr geraten hat, ist keine Lösung für sie: Sie will fortan mit Gott streiten. »Indem sie Rätsel löste, würde sie Sinn in die Widersinnigkeit, Vernunft in den Aberwitz, Ordnung ins Chaos bringen und vielleicht lernen glücklich zu sein.«
So zieht sich die Suche nach Gott mit all den Fragen, auf die es keine Antwort gibt, als roter Faden durch Peris Leben. Auf Mansurs Wunsch – »nur Bildung kann uns retten« – geht Peri zum Studium nach Oxford. Dort wird sie zu einem exklusiven philosophisch-theologischen Seminar mit wenigen ausgewählten Teilnehmern verschiedener Glaubensrichtungen zugelassen, das der charismatische Professor Azur veranstaltet. Sein Ziel ist die »Förderung von Empathie, ... Verständnis und Weisheit, sophos, im Zusammenhang mit der Vorstellung ›Gott‹«. Es geht um vielfältige Antworten auf die schwierigsten Fragen unserer Zeit. »Kurzum: Verwirren und verwirrt werden ....«
Hier lernt Peri Shirin und Mona kennen, mit denen sie bald eine Wohngemeinschaft eingeht. Eine Zufallsbegegnung – oder, wie es Peri in der Rückschau erscheint, Teil eines von Professor Azur gesteuerten Experiments? Denn Azur ist überzeugt, dass Gott als Studienobjekt verbindend wirkt. Bringt man Menschen, die nicht zueinander passen, in einem Raum zusammen, so können ihre unterschiedlichen Auffassungen von Gott zur gegenseitigen Vervollkommnung beitragen. Und die drei muslimischen Freundinnen – »die Sünderin, die Gläubige und die Verwirrte« – unterscheiden sich erheblich in ihrer Art, Biografie und Lebensweise. Das existenzielle Experiment endet nach falsch interpretierten Gefühlen und seelischen Verletzungen in einem Skandal mit weitreichenden Folgen. Antworten für ihre Suche nach Gott, seiner Liebe, seiner Gerechtigkeit und ihrem eigenen Weg findet Peri nicht. Der weltoffene Professor Azur und sein kontroverses Seminar lassen sie als »Verwirrte« zurück.
Mit den drei Frauenfiguren hat die türkische Autorin Elif Shafak ein Spiegelbild der zerrissenen türkischen Gesellschaft unserer Tage geschaffen. Eingebunden in eine immer mal wieder eingeschobene Rahmenhandlung bildet der anspruchsvolle Diskurs über die philosophisch-religiöse Thematik den eigentlichen Schwerpunkt des Romans.
Im Jahr 2016 lebt Peri mit drei Kindern und Ehemann in Istanbul. Hier beginnt die Erzählung mit einer unterhaltsamen, süffisanten Zustandsbeschreibung der Fünfzehn-Millionen-Metropole, die schier im Chaos versinkt. Mit Peris Familie gewinnen wir Einblick in die Luxusvillen der bestsituierten Aufsteiger-Kreise, wo die Frauen einander nach Äußerlichkeiten taxieren und die konservativen Männer sich gegenseitig ihres neuen nationalen Selbstbewusstseins versichern. Die Demokratie europäischen Musters führe mit ihren kleinkarierten Debatten zu nichts und sei schon von ihrem Gleichheitskonzept her falsch, denn »Ungebildete« mit Wahlrecht könnten letzten Endes »das ganze Haus« abfackeln wie ein Kleinkind, dem man Streichhölzer in die Hand gedrückt hat. Wie viel geeigneter für die islamische Welt und insbesondere die große Türkei sei doch eine »gelenkte Demokratie« unter der Leitung eines klugen, »starken Führers«. Man sei nicht mehr »der kranke Mann am Bosporus«, vielmehr »fürchtet uns Europa.
Elif Shafak ist nach »Ehre« [› Rezension] erneut ein intensiver, packender Roman gelungen, und auch ihn hat Michaela Grabinger ansprechend übersetzt. Wieder bestechen wunderbar poetische und eindringlich gestaltete Passagen neben der fundierten gesellschaftlichen Analyse. Die Autorin präsentiert die divergierenden Positionen und die vielen Fragen, die sich eröffnen, überlässt es aber dem Leser, Antworten darauf zu finden. Unparteiisch ist ihre Darstellung nicht. Ihr Bild der türkischen Gesellschaft – zerrissen, patriarchalisch, frauenfeindlich, sich von Demokratie und Aufklärung abwendend – ist kritisch und aus westlicher Sicht frustrierend. Wo Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Frauenrechte, Pluralismus und Medienvielfalt systematisch abgebaut werden, sind die Zukunftsperspektiven düster. Wer sich angesichts von Drohungen begleiteter Beschneidung der Meinungsfreiheit dennoch mutig das Recht herausnimmt, seine Überzeugungen frei auszuformulieren und zu veröffentlichen, wie Elif Shafak das tut, ist sich des Risikos bewusst und verdient Respekt.