Rezension zu »Der Geruch des Paradieses« von Elif Shafak

Der Geruch des Paradieses

von


Belletristik · Kein & Aber · · Gebunden · 560 S. · ISBN 9783036957524
Sprache: de · Herkunft: tr

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Wohin geht die Reise?

Rezension vom 28.02.2017 · 24 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Mensur und Selma Nalbantoğlu gehören zur Mittel­schicht der türki­schen Gesell­schaft. Viele Jahre nach der Geburt ihrer beiden Söhne Unmut und Hakan bekommen sie in den Acht­ziger­jahren uner­wartet noch einmal Nachwuchs. Nazperi (kurz: Peri) nennen sie das Mädchen. Das Kind wächst in einem Viertel der asiati­schen Seite Istan­buls als wohl­behütete Vater­tochter auf, der es an nichts mangelt. Aber sie ist nicht glücklich. Denn ihr Eltern­haus ist ein Kriegs­gebiet, auf dem sich zwei rivali­sierende, recht­habe­rische, gegen­sätz­liche Partner täglich den Fehde­hand­schuh hinwerfen.

Gern sitzt Peri an Mensurs Seite, um seinen Geschich­ten, Revo­lutions­liedern und anato­lischen Balladen über gebrochene Herzen und uner­füllte Liebe zu lauschen. Der Vater war als Schiffs­ingenieur weit herum­ge­kommen, was ihn zu einem säkularen, frei­sinnigen Demo­kraten gemacht und seinen Blick auf sein Vater­land geschärft hat. In fast jedem Zimmer der Wohnung blickt ein Porträt von Kemal Atatürk aus ver­schnörkel­ten Bilder­rahmen auf die Familie herab, und sogar einen Trink­becher zieren Unter­schrift und ein markantes Zitat des Begründers der moder­nen Republik Türkei: »Die zivili­sierte Welt ist uns voraus, es bleibt uns nichts übrig, als mit ihr gleichzu­ziehen.« »Ohne ihn würde es bei uns zugehen wie im Iran, vergiss das nie!«, hält Mensur seiner Tochter immer wieder vor Augen. Dass er seine Wehmut über Atatürks schwin­dende Bedeutung, die tristen Perspek­tiven der Politik und die Machen­schaften der Politiker mit Alkohol zu betäuben sucht, werde Allah einem ansonsten guten Mann, der nicht spielt, nicht raucht, nicht den Frauen nachjagt, gewiss nachsehen.

Mutter Selma teilt die Auf­fassun­gen ihres Mannes jedoch keines­wegs. Erst kürzlich hat sie sich einem religiös moti­vierten männer­feind­lichen Zirkel ange­schlossen, gewandet sich ganz in Schwarz, so dass nur ihr Gesicht frei zu sehen ist, verweigert Männern ihre Hand zur Begrüßung oder zum Abschied. Selbst einen gerade frei gewor­denen Sitzplatz im Bus würde sie nie ein­nehmen, wenn zuvor ein Mann darauf gesessen hat. Von heute auf morgen hat sie alle Produkte, die mit Schweine­gelatine versetzt sein könnten, aus dem Haushalt verbannt, darunter auch Schuhe aus dem Ausland. Statt Zahnpasta wird jetzt ein Miswak­zweig benutzt.

Die gehorsame Peri ist hin und her gerissen zwischen den wider­streiten­den Botschaften ihrer Eltern. Mit ihrer Mutter betet sie heimlich zu Allah und trägt ohne zu murren Socken aus Ziegen­wolle und Sandalen statt modischer Schuhe wie ihre Mit­schüler. Die befremdet ihr Verhalten, und sie spötteln über Peri.

Peris ältester und liebster Bruder Unmut engagiert sich für links­liberale Politik, sein Vorbild ist Karl Marx. Als er nach einer Razzia verhaftet, zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wird und dort Demüti­gungen und Folter durch­leidet, nehmen die Span­nungen im Eltern­haus noch zu. Unter gegen­seitigen Schuld­zuwei­sungen – Vater habe »die Saat der Gott­losig­keit in Unmuts Kopf gepflanzt«, Mutter sei dem von fana­ti­schen Predigern ver­heiße­nen »Geruch des Para­dieses« gefolgt, anstatt auf die realen Entwick­lungen ihres Sohnes zu achten – driftet die Familie immer weiter aus­einan­der.

Peri befallen Zustände übergroßer Angst, während denen ihr ein myste­riöses, bedroh­liches Wesen, der Dschinn, erscheint. Um den Dämon zu vertreiben, bemüht Selma einen Hodscha, doch dessen Exorzis­mus kann nichts aus­richten. Hätte Peri die erste Koran­sure aufge­sagt, wäre der Dschinn nie über sie gekommen. Zukünf­tig soll die Mutter besser auf ihr Kind auf­passen, denn es habe einen »Hang zum Dunklen«.

Peri ist verzweifelt und ratlos. Furchtbare Albträume verfolgen sie, sie versteckt sich im Kleider­schrank. In ihrer Zer­rissen­heit kann sie sich nicht mehr, so wie ihre Mutter es ihr beige­bracht hatte, an Allah wenden. Wie kann er un­schuldi­gen Menschen wie ihrem Bruder so schreck­liche Dinge antun? Wie kann er zugleich nah und un­erreich­bar sein? »Gott ist ein Laby­rinth, ... ein Puzzle, dessen Teile augen­schein­lich nie zu­sammen­passten.« Sie muss ihr Verhält­nis zu Gott neu aus­richten. Sich ganz von ihm abzu­wenden, ihn einfach zu igno­rieren, wie Vater ihr geraten hat, ist keine Lösung für sie: Sie will fortan mit Gott streiten. »Indem sie Rätsel löste, würde sie Sinn in die Wider­sinnig­keit, Vernunft in den Aberwitz, Ordnung ins Chaos bringen und vielleicht lernen glücklich zu sein.«

So zieht sich die Suche nach Gott mit all den Fragen, auf die es keine Antwort gibt, als roter Faden durch Peris Leben. Auf Mansurs Wunsch – »nur Bildung kann uns retten« – geht Peri zum Studium nach Oxford. Dort wird sie zu einem exklu­siven philo­sophisch-theolo­gischen Seminar mit wenigen ausge­wählten Teil­nehmern verschie­dener Glaubens­richtun­gen zuge­lassen, das der charis­matische Professor Azur veran­staltet. Sein Ziel ist die »Förderung von Empathie, ... Verständ­nis und Weis­heit, sophos, im Zu­sammen­hang mit der Vor­stellung ›Gott‹«. Es geht um viel­fältige Antworten auf die schwie­rigsten Fragen unserer Zeit. »Kurzum: Verwirren und verwirrt werden ....«

Hier lernt Peri Shirin und Mona kennen, mit denen sie bald eine Wohn­gemein­schaft eingeht. Eine Zufalls­begegnung – oder, wie es Peri in der Rück­schau erscheint, Teil eines von Professor Azur gesteuer­ten Experi­ments? Denn Azur ist über­zeugt, dass Gott als Studien­objekt verbin­dend wirkt. Bringt man Men­schen, die nicht zuein­ander passen, in einem Raum zu­sam­men, so können ihre unter­schied­lichen Auf­fas­sun­gen von Gott zur gegen­seitigen Vervoll­komm­nung beitragen. Und die drei musli­mischen Freun­dinnen – »die Sünderin, die Gläubige und die Verwirrte« – unter­scheiden sich erheb­lich in ihrer Art, Bio­grafie und Lebens­weise. Das existen­zielle Experi­ment endet nach falsch inter­pretier­ten Gefühlen und seeli­schen Ver­let­zungen in einem Skandal mit weit­reichen­den Folgen. Antworten für ihre Suche nach Gott, seiner Liebe, seiner Ge­rechtig­keit und ihrem eigenen Weg findet Peri nicht. Der welt­offene Professor Azur und sein kontro­verses Seminar lassen sie als »Verwirrte« zurück.

Mit den drei Frauenfiguren hat die türkische Autorin Elif Shafak ein Spiegel­bild der zer­risse­nen türki­schen Ge­sell­schaft unserer Tage geschaffen. Einge­bunden in eine immer mal wieder einge­schobene Rahmen­handlung bildet der anspruchs­volle Diskurs über die philo­sophisch-religiöse Thematik den eigent­lichen Schwer­punkt des Romans.

Im Jahr 2016 lebt Peri mit drei Kindern und Ehe­mann in Istan­bul. Hier beginnt die Erzäh­lung mit einer unter­halt­samen, süffi­santen Zu­stands­be­schrei­bung der Fünf­zehn-Millio­nen-Metro­pole, die schier im Chaos versinkt. Mit Peris Familie gewinnen wir Einblick in die Luxus­villen der best­situier­ten Auf­steiger-Kreise, wo die Frauen einan­der nach Äußer­lich­keiten taxieren und die konser­vativen Männer sich gegen­seitig ihres neuen natio­nalen Selbst­bewusst­seins versichern. Die Demo­kratie europäi­schen Musters führe mit ihren klein­karier­ten Debatten zu nichts und sei schon von ihrem Gleich­heits­konzept her falsch, denn »Unge­bil­dete« mit Wahlrecht könnten letzten Endes »das ganze Haus« abfackeln wie ein Kleinkind, dem man Streich­hölzer in die Hand gedrückt hat. Wie viel geeig­neter für die islami­sche Welt und ins­beson­dere die große Türkei sei doch eine »gelenkte Demo­kratie« unter der Leitung eines klugen, »starken Führers«. Man sei nicht mehr »der kranke Mann am Bosporus«, vielmehr »fürchtet uns Europa.

Elif Shafak ist nach »Ehre« [› Rezension] erneut ein inten­siver, packen­der Roman gelungen, und auch ihn hat Michaela Grabinger an­sprechend über­setzt. Wieder bestechen wunderbar poeti­sche und ein­dring­lich gestaltete Passa­gen neben der fun­dierten gesell­schaft­lichen Analyse. Die Autorin präsen­tiert die diver­gieren­den Posi­tionen und die vielen Fragen, die sich eröff­nen, über­lässt es aber dem Leser, Ant­worten darauf zu finden. Unpar­teiisch ist ihre Dar­stel­lung nicht. Ihr Bild der türki­schen Gesell­schaft – zerrissen, patriar­chalisch, frauen­feindlich, sich von Demo­kratie und Auf­klärung abwen­dend – ist kritisch und aus west­licher Sicht frustrie­rend. Wo Rechts­staat­lich­keit, Gewalten­teilung, Frauen­rechte, Pluralis­mus und Medien­vielfalt syste­matisch abgebaut werden, sind die Zukunfts­per­spek­tiven düster. Wer sich ange­sichts von Dro­hungen beglei­teter Be­schnei­dung der Meinungs­freiheit dennoch mutig das Recht heraus­nimmt, seine Über­zeugun­gen frei auszu­formu­lieren und zu ver­öffent­lichen, wie Elif Shafak das tut, ist sich des Risikos bewusst und verdient Respekt.


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