Im Herzen der Gewalt
von Édouard Louis
Unerwartet bricht brutale Gewalt in das Leben eines jungen Intellektuellen. Der Homosexuelle wird in seiner eigenen Wohnung in Paris zum Opfer. Die Tat entzieht ihm jegliche Sicherheit und zwingt ihn, sich mit gesellschaftlichen und familiären Ressentiments auseinanderzusetzen.
Geschunden, verunsichert und unverstanden
Am Weihnachtsabend treffen auf der Place de la République in Paris zwei junge Männer aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Reda ist Algerier, Migrant, Sohn einfacher Flüchtlinge, Édouard Louis dagegen ein angehender Schriftsteller, der soeben mit seinen Freunden Didier Éribon (Professor der Soziologie und Autor) und Geoffroy de Lagasnerie (Philosoph und Soziologe) beschwingt gefeiert hat. Über die Kultur- und Standesunterschiede hinweg verbindet die beiden das Stigma der Homosexualität, das sie in der gutbürgerlich-konservativen französischen Gesellschaft zu Außenseitern macht.
Reda spricht Édouard an, der fühlt sich sofort sexuell angezogen, unterdrückt erst seine Begierde, gibt dann jeglichen Widerstand auf und lädt den Fremden in seine Wohnung ein. Dort lieben sich die beiden, doch dann kommen Spannungen auf. Reda lässt iPad und Smartphone seines Zufallsliebhabers in seinen Manteltaschen verschwinden, beschimpft Édouard, als der ihn zur Rede stellt, die gegenseitigen Beleidigungen eskalieren zu körperlicher Gewalt. Reda fesselt, würgt, bedroht Édouard mit einer Waffe und vergewaltigt ihn schließlich brutal. Édouard lässt die Tortur über sich ergehen, kann sich aber dann befreien und seines Peinigers entledigen.
Verständlich, dass der Vorfall den Geschundenen prägt. Wie besessen reinigt er die Wohnung und seinen Körper, hinterfragt sein Verhalten wieder und wieder, muss später bekennen, rassistische Gedanken entwickelt zu haben.
All dies erzählt der französische Schriftsteller Édouard Louis unter Verwendung der unverschlüsselten Namen (was ja noch lange nicht die »Wahrheit« aller Details bedeutet) – und übrigens ohne explizit ausgebreitete Schilderungen sexueller Akte. Bereits sein literarisch beeindruckender Erstling »En finir avec Eddy Bellegueule« (2014; deutsch: »Das Ende von Eddy« 2015) las sich autobiografisch, denn er thematisierte Probleme, die ihm als Jugendlichem in der Provinz aus seiner Homosexualität erwuchsen. 1992 als Eddy Bellegueule in einem Dorf in der Picardie geboren und über Jahre diskriminiert, flüchtete der junge Mann in die Anonymität von Paris, wo er seinen Namen änderte und Soziologie studierte.
Die Darstellung des traumatischen Erlebnisses und seiner Folgen erscheint zunächst direkt und unverbrämt, wird dann aber durch ein raffiniertes literarisches Verfahren gebrochen. Der Erzähler relativiert sich und seine Erzählung, indem er weitere Standpunkte und Rollen einnimmt. Ein paar Tage nach Weihnachten kehrt er in sein Heimatdorf zurück und berichtet seiner Schwester Clara bis auf einige Details den gesamten Verlauf der Nacht, seinen Krankenhausbesuch, seine Anzeige bei der Polizei. Aber bei der konservativen Schwester findet seine Handlungsweise keinerlei Verständnis.
Später erzählt Clara alles ihrem Ehemann, und zwar reichlich garniert mit kritischen Kommentaren sowie Reminiszenzen an Édouards Kindheit und Jugend im Heimatstädtchen, wo jegliche Abweichung vom Üblichen willkommenen Nährstoff für Tratsch und Aufregung in der alltäglichen bornierten Langeweile brachte.
Originell: Derweil steht Édouard hinter der Tür und belauscht Schwester und Schwager bei ihrer offenherzigen Unterredung. So hört er begierig ›seine eigene Schand'‹, wie der Volksmund sagt. Hatte Clara zuvor wie unbeteiligt angehört, was er ihr an Emotionen anvertraut hatte (»ich hasse alle ... könnte von jetzt an nie wieder ertragen, glückliche Leute zu sehen«), hält sie nun ihrem Mann gegenüber nicht hinterm Berg mit ihrer Meinung. »Völlig idiotisch« findet sie seine Ansichten, »affig« seine Abneigung gegen Fleisch, seinen Waschzwang, »arrogant« die geradezu manisch wiederholten Vergleiche des von ihm absolvierten »Wahnsinnsweges« mit der kleinbürgerlichen Existenz seiner Kumpel von früher, die mit Familie, Hausbau und allen möglichen Pflichten »für die Ewigkeit im Erwachsenendasein feststecken«, während er sich selbst ihnen gegenüber für jünger und dynamischer hält, gleichzeitig auch für älter und gereifter.
Diese Ausführungen lassen den ›Lauscher an der Wand‹ nicht kalt. Ohne sich bemerkbar zu machen, kommentiert er nun seinerseits die Kommentare seiner Schwester für sich selbst und den Leser. Mit einer raffinierten Schachtelung komplettiert der Autor seinen literarischen Trick. In der ersten Perspektive erzählt Édouard, was ihm direkt widerfährt. Daneben hören wir Claras Stimme quasi im mitstenografierten Originalton, wie sie zu ihrem Mann spricht. In die Syntax dieses Sprachflusses eingeschoben, durch Klammern und kursives Druckbild abgesetzt, verfolgen wir die innere Stimme des lauschenden Édouard, ein innerer Monolog, den er an sich selbst richtet.
Auf diese reizvolle Weise legt der Autor das diffizile, verquere Verhältnis zwischen den Geschwistern offen. Auf seiner Meta-Ebene analysiert sich Édouard selbst und gesteht sich seine Gleichgültigkeit und Gefühlskälte ein: »Du willst nur nicht wiederkommen, weil ihr euch unweigerlich zankt ... weil alles an ihr, Verhalten, Gewohnheiten, auch die Denkgewohnheiten dich angreift und wütend macht ... das Zusammensein mit Clara zwingt dich, an dir die Seiten zu sehen, die du lieber nicht sähest, und das nimmst du ihr übel.«
Noch einmal muss er die Geschichte mit anhören, wie seine Familie auf sein Outing als Jugendlicher reagiert hatte. Erst beschwichtigten sie ihn mit konzilianten Worten (»Das Einzige, was zählt, ... ist, dass er glücklich wird.«). Denen misstraute er schon damals und kommentiert sie jetzt lapidar: »(sie lügt)«. Dann legten sie ihm nahe, »es« im Dorf »nicht so raushängen« zu lassen, »nicht so tuntig zu tun«, sonst würde ihnen das »Bauernpack« die Hölle heiß machen.
Umgekehrt unterstellt Clara dem Bruder psychische Heimtücke. Er habe ihnen sein Geheimnis nur offenbart, weil er erwartet habe, dann von allen abgelehnt zu werden. Wenn er im Anschluss Familie und Dorf für immer verlasse, könne er die Legende aufbauen (auch vor sich selbst), dass nicht er seinen Wurzeln untreu geworden, sondern verstoßen worden sei.
Und was ist von Reda und seinem Diebstahl zu halten? Édouard bringt Verständnis für die Tat eines sozial benachteiligten Migranten auf, während Clara ihr rigides Gerechtigkeitsempfinden dagegen stellt. Gleichzeitig muss sie Édouard daran erinnern, dass er selber schon als Kind geklaut hat und später als Jugendlicher mit seinen Kumpels systematisch auf Diebestour gegangen ist – ein wunder Punkt, der den Eltern verborgen blieb.
Durch die perspektivischen Brechungen – es kommen noch weitere Betroffene zu Wort – entsteht ein kompliziertes, widersprüchliches Bild der Ereignisse, der Charaktere, ihrer Einstellungen. Ohne sich um die Chronologie zu scheren, resümiert der Erzähler akribisch die Geschehnisse, Unterredungen und Befindlichkeiten, und seine eigenen Schwächen, Traumata, Obsessionen spart er ebenso wenig aus wie die verbreiteten Ressentiments gegenüber Homosexuellen, Migranten, Farbigen.
Dieser Protagonist – ein wahrer Antiheld – ist zutiefst verunsichert und fühlt sich unverstanden von seiner Familie und von seinen Freunden. Dass er ihrem Rat folgt und Anzeige gegen Reda erstattet – ein Schritt, den er später in Frage stellt, ja bereut –, ist der Hilflosigkeit geschuldet, die ihn nach der Tat überfällt. Er sieht alles und jeden durch den Filter der Gewalt, die ihm angetan wurde, er ist nicht mehr Herr in seiner Welt, er verliert den Zugriff auf die Zeit und auf die Sprache. Bis zum Schluss hat ihn eine existentielle Lebensangst im Griff und die düstere Perspektive, dem Geschehenen nie mehr entrinnen, nie mehr offen und vertrauensvoll auf andere Menschen zugehen zu können.
»Histoire de la violence« wurde von Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche übersetzt.