Berge aus Porzellan
Edmund de Waal, geboren 1964 in Nottingham, ist Professor, Autor und Keramiker. Sein 2010 erschienenes literarisches Erstlingswerk »The Hare with the Amber Eyes« (dt.: »Der Hase mit den Bernsteinaugen«, 2011) [› Rezension], die sehr persönliche Geschichte seiner jüdischen Familie und ihrer Netsuke-Sammlung, machte ihn international berühmt und wurde zum Weltbestseller.
Sein zweites Buch »The white road« , übersetzt von Brigitte Hilzensauer, behandelt erneut ein Sachthema, das jedoch auf wunderbare Weise erzählerisch-belletristisch aufbereitet wird. Es geht um die mehr als tausendjährige Geschichte der Porzellanherstellung, die im alten China begann und bis nach Dachau führte. Diese harte, zugleich filigrane, transparent schimmernde, beliebig form- und färbbare feine Keramiksorte war bis in neuere Zeiten ein Statussymbol der Eliten. Wer die geheimnisumwitterte Kunst ihrer Produktion beherrschte, war bei den Reichen und Mächtigen begehrt und führte in deren Diensten nicht selten ein Leben voller Gefahren oder in Gefangenschaft.
De Waal referiert nicht einfach, was bereits in zahlreichen Standardwerken zusammengetragen ist. Er hat persönlich und aufwändig über fünf Jahre hin recherchiert und ist zu den betreffenden Orten gereist. Sein Buch ist daher die Beschreibung einer tatsächlichen Annäherung an sein vielfältiges Sujet. Dies gilt noch in einem weiteren Sinn: Da er selbst Keramiker ist, fließen auch sein eigener Werdegang, seine eigenen Erfahrungen beim Gestalten ein. Wenn er beschreibt, wie sich die Erden anfühlen, was auf der Töpferscheibe geschieht, welche Gefühle das Öffnen des Brennofens begleiten, dann können wir Leser davon profitieren, dass de Waal nicht zuletzt ein begabter Schriftsteller ist. So ist diese ›Geschichte des Porzellans‹, die keine Sachfrage unbeantwortet lässt, mehr noch eine Art Liebesgeschichte zwischen dem Autor und seinem Stoff – und eine engagierte Hinführung des Lesers an den Zauber des fragilen Materials, das seit Jahrhunderten Menschen in aller Welt in seinen Bann schlägt.
Die äußere Gliederung – 66 Kapitel in fünf Teilen plus Coda, überschrieben mit den Ortsnamen Jingdezhen, Versailles, Dresden, Plymouth, Ayoree Hill, Etruria, London, Dachau und New York – scheint die gewaltige Stoffmenge bändigen zu können. Tatsächlich gibt sie nur grobe Orientierung. Der Autor unterwirft sich keiner strengen Systematik. Seine Begeisterung treibt ihn voran, Reiseerlebnisse, historische Exkursionen, Reportage ähnliche Passagen, philosophische Reflexionen lösen einander ab. Stets ist die volle Aufmerksamkeit des Lesers gefordert, doch der hängt ohnehin atemlos an de Waals Feder.
De Waal plante seine Reisen als »eine Art Wallfahrt zu den Anfängen«, als »Pilgerfahrt«. »Weiße Berge« will er besteigen. Sie liegen in China, Deutschland, England und Amerika. Hier hat man die Mineralien gefunden, die die Grundlage des »Weißen Goldes« bilden. Viele Misserfolge mussten dort durchlitten, unzählige Menschenleben geopfert werden, ehe die begierigen Auftraggeber zufriedengestellt waren. »Diese Reise ist eine Schuldabstattung an diejenigen, die früher waren«, schreibt de Waal.
Sein erstes Ziel ist Jingdezhen, das »Weltzentrum des Porzellans«, vor über tausend Jahren zur kaiserlichen Manufaktur erhoben. Nicht weit entfernt erhebt sich der Berg Gao-ling mit seinen Porzellanerdevorkommen, heute eine riesige Abraumhalde aus über Jahrhunderte entsorgten Scherben. 1698 hatte der aus Frankreich angereiste Jesuitenpater François Xavier d'Entrecolles (1664-1741) das Geheimnis (»Arkanum«) der Porzellanherstellung erforscht und die Rezeptur nach Hause geschickt. Seither nennt man bei uns die unter verschiedenen Namen bereits bekannte weiße Tonerde »Kaolin«.
Über die Stadt Jingdezhen, wo man auf der »Straße der Reproduktionen« für kleines Geld ungezählte Artikel aus weißem Porzellan findet (Mao-Plaketten, Teeschalen, einen »Mönchskappen-Krug«, sieben T'ang-Schalen, perfekt auf alt getrimmt), gibt es so viele Geschichten zu erzählen, dass der Autor sie »sammeln« wird, in »einer Art Plastikbeutel, in dem sie zufällig zusammenstoßen« (ein passendes Bild für die Struktur dieses Buches).
Edmund de Waal ist in offizieller Mission hier, um als Kurator eines westlichen Museums eine Ausstellung von Jingdezhen-Porzellan vorzubereiten. Wie er die kontinuierliche Überwachung des Programmablaufs schildert, lässt schmunzeln, bis ein unausweichlicher Besuch im Museum für »Revolutionskeramik« vor Augen führt, dass auch Porzellankunst ideologisch instrumentalisiert wird. Zwanzig Zentimeter hohe Figürchen ästhetisieren blanken Terror – ein Mädchen mit Spotthut, eine Exekutionsszene – und machen sprachlos. Fragen sind nicht erwünscht.
China begegnen wir erst gut vierhundert Seiten später wieder, wenn Maos Kulturrevolutionäre dabei sind, alles »Reaktionäre« und »Konterrevolutionäre« zu vernichten. Bis dahin wechselt der Autor noch viele Male das Thema, erzählt und berichtet von sich und anderen, aus der Jetztzeit oder der Vergangenheit, versetzt sich an die unterschiedlichsten Orte und in die Lage vieler anderer Menschen. Einer davon ist Pater d'Entrecolles, der die grausigen Arbeitsbedingungen der Million armer, verkrüppelter, kranker Seelen schildert, die sich für einen Hungerlohn zu Tode schuften müssen, um dem Kaiser immer neue Schätze in die »Verbotene Stadt« zu liefern: weiße Elefanten, eine weiße Pagode aus Porzellan ...
Den zweiten »weißen Berg« sucht Edmund de Waal in Sachsen auf. Dort ist der junge Prinz Friedrich August schon Jahre, bevor er 1694 Kurfürst von Sachsen wird, der »maladie de porcelaine« verfallen. Welche Pracht ein Hof entfalten kann, hatte ihm ein Besuch in Versailles vor Augen geführt, und edles Porzellan war dazu unabdingbar. Kostbare Objekte aus der Ming-Dynastie – Geschenke eines Medici – befeuerten eine Sammelleidenschaft, die auf Dauer nicht einmal die sächsischen Staatsfinanzen stillen konnten (Nach seinem Tod 1733 würde August der Starke die größte Porzellansammlung der Welt hinterlassen.).
Einen Ausweg erhofft man sich von dem jungen Chemiker und Alchimisten Johann Friedrich Böttger, der 1701 vor Zeugen Silber in Gold verwandelt hatte. Jahrelang hält man ihn an verschiedenen Orten gefangen, doch das ersehnte Wunder kann er nicht wiederholen. Dafür kommt er mit seinen Mitarbeitern beim Experimentieren mit Werkstoffen für hochtemperaturfeste Laborgeräte dem Geheimnis des »weißen Goldes« auf die Spur und lernt, Porzellan samt Glasur und Farben herzustellen. 1710 wird die »königlich-polnische und kurfürstlich-sächsische Porzellanmanufactur« in Meißen gegründet. 1719 stirbt Böttger, körperlich und finanziell am Ende.
Nicht annähernd so spektakulär, geheimnisvoll und abenteuerlich wie in Sachsen verlief die Entstehungsgeschichte des englischen Porzellans (»Wenn Dresden Technicolor war, mit Mätressen und Fluchtplänen, dann verspricht England bloß viele fehlgeschlagene Experimente.«). Der Protagonist an de Waals drittem Reiseziel ist Josiah Wedgwood (1730-1795), der einen »Haudegen« über den Atlantik schickt, um dem Cherokee-Volk ein paar Tonnen ihrer weißen Tonerde »unaker« abzuluchsen. Sie wird aus dem Inneren des Appalachen-Berges Ayoree (oder Aoyee? jedenfalls de Waals vierter Berg) gefördert und mühselig an die Küste und nach London verfrachtet. Derweil hat der Apotheker William Cookworthy die Bestandteile asiatischen Porzellans aus Mineralien raffiniert. Ab 1770 produziert seine »Plymouth Manufactory« Vasen, Teegeschirr und Krüge.
Im zwanzigsten Jahrhundert wird die weiße Ware zum industriell fabrizierten Alltagsprodukt für die Massen. Aber Liebhaber und Sammler kunstvoller Unikate gibt es immer noch. Einer von ihnen ist Heinrich Himmler. Gern beglückt er auch verdiente SS-Familien mit »Julleuchtern« aus der Porzellanfabrik Allach. 1940 verlegt Himmler die Produktion ins Konzentrationslager Dachau, wo nun Gefangene Objekte gestalten, die die gesamte NS-Führung beeindrucken (»sich aufbäumender Hengst mit flatternder Mähne«, »Friedrich der Große zu Pferd«, ein muskulöser »Fechter«, auf seinen Degen gestützt).
Edmund de Waals komplexes Buch fesselt den Leser durch die Begeisterung seines breit gebildeten, sprachmächtigen Autors. Er ist ein Getriebener, von der Suche nach dem total reinen Weiß des Porzellans besessen, dessen Symbolik er auslotet, dessen Geschichte er hinreißend erzählt.