Risse in der schönen florentinischen Fassade
Edith Kneifls "Stadt der Schmerzen" hat den Untertitel "Ein Florenz-Krimi". Da erwartet der Leser natürlich, dass neben dem Krimiplot die kunsthistorischen Schätze der Stadt zu bester Unterhaltung beitragen. Und er wird nicht enttäuscht werden. Der Florenz-Kenner wird im Verlaufe der Handlung Erinnerungen wiederaufleben lassen, andere werden nach der Lektüre vielleicht einen Kulturtrip in diese traumhafte Stadt planen. Denn Edith Kneifl beschreibt sehr detailreich die historische Altstadt, den Ponte Vecchio über den Arno, die Renaissance Palazzi der einflussreichen Familien der Medici und Strozzi, Kirchen und Klöster mit ihren sensationellen Fresken und die von Touristen aus aller Welt immer wieder fotografierten Skulpturen und Brunnen sowie die herrlichen Gärten, deren Flora die betörendsten Düfte verströmen. In dieser Stadt arbeiteten die berühmtesten Künstler mehrerer Jahrhunderte, wie Donatello, Botticelli, Michelangelo, Leonardo da Vinci, um nur wenige aufzuzählen. An unterschiedlichen Stellen des Romans sind aparte Schwarz-weiß-Fotografien eingeschoben – schade nur: es fehlen Angaben dazu, was sie zeigen.
Zu dieser Kulisse gehört die original toskanische Küche. Wie gerne hätte ich die Piatti del Giorno mit den Protagonisten genossen. Nur in der Tripperia, die in Italien beliebte und gängige Spezialitäten anbietet, nämlich Kutteln, hätte ich mich überwinden müssen ...
Edith Kneifls Krimi beginnt mit einer grausamen Episode. Mit Fleischerhaken bekämpfen sich zwei Menschen im Kühlhaus einer Fleischerei. Während des blutigen Gemetzels hallt Cavaradossis Arie aus "Tosca" durch den Raum.
Dann setzt die Handlung ein. In der reichen und angesehenen florentinischen Adelsfamilie Pazzini, deren Stammbaum bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht, ist das Oberhaupt Rudolfo gestorben. Sein Sohn Orlando, ein Transvestit, lebt in Wien. Er überredet Katharina, die Ich-Erzählerin, ihn nach Florenz zur Beerdigung zu begleiten. Wider Erwarten ist die ehemalige Kunststudentin nicht besonders begeistert von diesem Vorschlag, willigt aber des guten Freundes wegen ein und fährt also in der Sommerhitze gen Süden.
Wir erleben im Laufe der weiteren Handlung, dass die noble Fassade der renommierten Familie arge Risse hat. Besonders makaber gestaltet sich die Beerdigungszeremonie. Halb Florenz samt Fotografen, Journalisten und Fernsehleuten hat in der Kirche San Miniato al Monte (aus dem 11. Jahrhundert) Platz genommen. Orlando bemerkt, dass der sechste Sargträger fehlt – an diesem Platz sollte Cousin Riccardo sein. Ein Ministrant springt ein, und gemeinsam tragen sie den Sarg feierlich zur Treppe. Da gellt ein lauter Schrei durch die Kirche: "Riccardo ist tot!" Nun bricht ein Tumult aus, alle rennen zum Ausgang, der Sarg entgleitet den Händen der Träger und rumpelt die lange Treppe hinunter.
Riccardo wurde umgebracht – warum? Die hochwohlgeborenen Pazzini haben dunkle Geheimnisse. Hinter dem Rücken der Mafia wollten sie selber krumme Geschäfte machen. Katharina wird unfreiwillig Zeugin, wie zwei kleine Roma-Mädchen gefälschte Parfümflaschen abfüllen, und als eine der beiden später ermordet wird, kämpft sie um das Leben der anderen. Als geborene Roma schlägt ihr Herz besonders stark für diese armseligen Würmchen. Wie die ehrenwerten Pazzini die minderjährigen Mädchen als Prostituierte, Diebe und billige Arbeitskräfte ausnutzen, ist leider in allen europäischen Großstädten übliche Praxis. Als Thematik eines Krimis wurde sie bisher noch nicht oft aufgerollt. Und eine gesellschaftspolitische Lösung kann auch Edith Kneifl nicht anbieten. Die Krake Mafia breitet sich aus, und ist ein Kopf abgeschlagen, wächst schon ein neuer heran. Ein trauriges Kapitel ...
Edith Kneifl lebt und arbeitet als Psychoanalytikerin und Schriftstellerin in Wien. Ihre Werke wurden vielfach ausgezeichnet; u.a. erhielt sie 1992 als erste Frau den Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Kriminalroman des Jahres.