Die schwere Hand: Avi Avraham ermittelt
von Dror Mishani
Drei Psychogramme: Eine beruflich erfolgreiche Ehefrau und Mutter trägt seit Jahren schwer an einem traumatischen Vergewaltigungserlebnis. Ein neu ernannter Dezernatsleiter, nachdenklich und unsicher, muss als seine erste Aufgabe einen Mord aufklären. Ein Täter bekennt, er habe nie so sein wollen, wie er ist.
Er wollte anders sein
Auf leisen Sohlen beschleichen den Leser ungute Gefühle, bis sich die »schwere Hand« des verbrecherisch Bösen breit macht. Unsichere Persönlichkeiten, enttäuschte Hoffnungen, schwer kompatible Partner und strapazierte Beziehungen machen von Anfang an klar, dass Dror A. Mishanis Roman kein leichtherziges Krimivergnügen, sondern eine ernste Angelegenheit ist. Genau darin liegt sein Vorzug, sofern man feinsinnige Spannungsromane dieser Art mag – sozusagen ein Psychogramm mit Krimi-Elementen.
Ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag bricht über Masal (»Mali«) und Jacob (»Coby«) Bengtson neues Unheil herein. Dabei wäre das doch die schönste Gelegenheit für die Mutter zweier Kinder, ihrem Ehemann zu eröffnen, dass sie ganz unerwartet erneut schwanger ist. Aber er kommt erst vor Mitternacht nach Hause, lässt den Jahrestag unerwähnt, schweigt nur vor sich hin und zieht sich schließlich mit einer Pistole aufs Dach zurück.
Jacob Bengtson ist schon lange nicht mehr er selber. Als junger Mann träumte er von einer Karriere beim israelischen Geheimdienst, doch weil er den psychologischen Eignungstest nicht bestand, war der Weg bereits nach dem Einführungskurs verbaut. Was stattdessen folgte, waren nur weitere Frustrationen: befristete Anstellungen als Sicherheitsmann, Arbeitslosigkeit, ungezählte Bewerbungsgespräche, gefolgt von Absagen. Zwar kann Mali als Finanzberaterin einer Bank die Familie allein ernähren, wünscht sich aber mehr Unterstützung durch ihren Mann.
Wahrscheinlich hätte sich Mali längst von Coby getrennt, hätte er ihr nicht in der schlimmsten Phase ihres Lebens geduldig und einfühlsam zur Seite gestanden. Während eines Betriebsausflugs ans Meer wurde sie von einem Mann mit schwarzer Sturmhaube überfallen und in ihrem Hotelzimmer vergewaltigt. Zur Aufklärung des Verbrechens konnte sie kaum etwas beitragen, und so wurde der Mann nie gefasst. Aber bis heute lässt die »schwere Hand« Mali nachts nicht mehr ruhig schlafen.
Schließlich eröffnet Coby seiner Frau, was ihm just am Hochzeitstag widerfahren ist. Er hat eine Frau angefahren und ist kopflos und panisch vom Ort des Geschehens fortgelaufen. Jetzt bittet er Mali um Hilfe. Sie soll ihm ein Alibi geben und den zurückgelassenen Unfallwagen nach Hause holen.
Auch Oberinspektor Avi Avraham, 40, hatte bisher kein einfaches Verhältnis mit seiner Freundin Marianka. Nun kommt sie aus Brüssel geflogen, um ihre Beziehung erneut zu prüfen. Avi will sich Zeit für sie nehmen, feinfühlig sein, um ihren berüchtigten Launen frühzeitig die Spitzen brechen zu können. Auch Mariankas anspruchsvolle Eltern muss er im Auge behalten, denn dass ihre Tochter ihre Begabungen an der Seite eines Polizisten verkommen lassen sollte, ist für sie eine inakzeptable Perspektive.
Leider vereitelt die Meldung eines Leichenfunds Avis gute Absichten. Jetzt werden ihn die Ermittlungen in Beschlag nehmen, so dass er sich die Zeit für Marianka wird aus den Rippen schneiden müssen. Dass ihre Eltern auch noch anreisen, macht seine Lage nicht einfacher, bekräftigen ihre Eindrücke vor Ort doch bloß ihr vorgefasstes vernichtendes Urteil, zumal Avi nur ein jämmerliches, wenig kämpferisches Bild von sich abgeben kann.
Denn Avi Avraham hat’s auch im Beruf gerade nicht leicht. Soeben ist er zum Leiter des Ermittlungsdezernats im Ayalon-Distrikt befördert worden und muss sich nun in seinem ersten Fall, der Vergewaltigung und Tötung einer Sechzigjährigen, bewähren. Dass er aber im Grunde ein zaghafter Mensch und zögerlicher Ermittler ist, spürt sein Team sogleich. Während ihm die einen loyal zur Seite stehen, werfen ihm andere Steine in den Weg. Ausgerechnet mit seinem Vorgesetzten, einem Mann aus anderem Holz geschnitzt, ist nicht gut Kirschen essen. Wie gern würde sich Avi mit dessen Vorgängerin – bisher seine wichtigste berufliche Bezugsperson – beratschlagen, doch die ist schwer erkrankt und wünscht in keinen Fall mehr involviert zu werden.
Dessen ungeachtet sucht der frischgebackene Oberinspektor seine frühere Chefin auf – und erlebt schon wieder eine Enttäuschung. Statt ihm, wie erhofft, Mut für seine Vorgehensweise zuzusprechen, sagt sie ihm auf den Kopf zu, was sie von ihm hält. Er könnte ein »exzellenter Ermittler sein«, wenn er nicht ein einspurig Suchender wäre, einer, den eigene Beweggründe und Gefühle leiten. Und tatsächlich muss er sich eingestehen, Polizist geworden zu sein, »weil er dem Schmerz nah sein musste«.
Dror Mishanis »Die schwere Hand«, der dritte Teil der Serie um den Ermittler Avi Avraham, ist ein stiller, langsam und geradlinig voranschreitender Kriminalroman. (Markus Lemke hat ihn aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt.) Weder die genannten Gewalttaten noch die Verbrechensaufklärung stehen im Mittelpunkt. Den Autor und seinen Protagonisten interessieren vielmehr die in eine solche Tat verwickelten Menschen: »Das Opfer« und »Der Mörder« (so die Überschriften der beiden Romanteile).
Warum wird ein unschuldig Geborener im Laufe seines Lebens zum Mörder? Im vorliegenden Fall bekennt der Täter, er habe nie so sein wollen, wie er ist, er leide darunter, ein solcher Mensch zu sein. Von seiner Schuld kann ihn das aber nicht entlasten. Und was macht die Gewaltausübung mit ihrem Opfer? Obwohl zum Beispiel Mali Bengtson ahnt, wer ihr mit schwerer Hand ein Messer an den Hals gedrückt haben mag, nimmt sie lieber eine Opferrolle auf sich, anstatt Anzeige zu erstatten und die Wahrheit offenlegen zu lassen.
Der Ermittler ist der dritte Eckpunkt dieses spannend zu lesenden Psychogramms mit Krimi-Touch. Denn Avi Avraham, der alles und jedes hinterfragt, seine Verhöre im Vorfeld durchdenkt und plant, lädt ungewollt Mitschuld auf sich. Er selbst ermöglicht es dem Täter, eine Bluttat zu begehen, weil er bei einem wichtigen Gespräch Informationen zum Ermittlungsstand zurückgehalten hat. Der folgenreiche Fehler wird dem Polizisten zur schweren emotionalen Bürde.
Schließlich sei kritisch angemerkt, was mir missfiel: Obwohl der Plot einfach zu verstehen, die Romanstruktur unkompliziert ist und auch die sprachliche Gestaltung keinerlei Schwierigkeiten bereitet, wird der jeweils aktuelle Stand der Ermittlungen wegen winziger Veränderungen umfänglich wiederholt. Da tut der Autor des Guten zuviel und nervt ungeduldige Leser ein bisschen.