Der Bruch
von Doug Johnstone
Spannend erzählte Geschichte aus dem Leben eines Siebzehnjährigen, der in einer dysfunktionalen Familie in einem desolaten Edinburgher Brennpunkt aufwächst. Seine Handlungsoptionen sind ebenso begrenzt wie seine Chancen für die Zukunft.
Zum Scheitern verurteilt?
Der junge Tyler Wallace fällt komplett aus dem Rahmen. Auf Greendyke, wo der Siebzehnjährige wohnt, passt »jedes Klischee von sozialer Verwahrlosung«. Zwei hässliche, heruntergekommene Hochhäuser sind inmitten einer unansehnlichen Einöde aus illegal zugemülltem Brachland noch verblieben, nachdem schon einige der Betonsilos abgerissen wurden, um einer riesigen Baustelle zu weichen. Vor den Toren Edinburghs soll hier »Greenacres« entstehen, ein Areal mit Wohnungen und Einfamilienhäusern für Familien, die sich so etwas leisten können. Aus Greendyke werden keine darunter sein.
Die Familie Wallace ist in diesem sozialen Brennpunkt mit fünf Personen in zwei Haushalten präsent. Tylers Mutter Angela verbringt die meiste Zeit im Bett, zugedröhnt mit Heroin und Wodka. Da sie nicht einmal in der Lage ist, sich um sich selbst zu kümmern, beherrscht der penetrante Gestank ihrer körperlichen Hinterlassenschaften die Wohnung. Gegenüber hausen ihre beiden ältesten Kinder Barry und Kelly in einem inzestuösen Verhältnis. Während Kotzbrocken Barry seine Schwester unverblümt als »blöd wie Scheiße in ‘ner Flasche« bezeichnet, hält er sich selbst für unwiderstehlich und unbesiegbar. Mit zwei aggressiven Kampfhunden, die durch die Wohnung fauchen, verleiht er seinem absurd fehlgeleiteten Selbstbild Nachdruck.
Ganz anders Tyler, der Halbbruder der beiden hirn- und herzlosen Psychopathen. Er führt nicht nur den Haushalt, sondern pflegt und versorgt auch seine Mutter, selbst in deren erbärmlichsten und bedrohlichsten Momenten. Sein Hauptaugenmerk aber gilt seiner siebenjährigen Schwester Bethany, die er liebevoll Bean nennt. Ihr möchte er nicht nur die Chance eröffnen, mit einem guten Schulabschluss ein besseres Leben aufzubauen, sondern will ihr auch stets mit reinem Gewissen ins Gesicht schauen können. So bringt er sie zur Schule, schirmt das Elend der Mutter, so gut es geht, vor ihr ab und setzt ihm ein optimistischeres Weltbild entgegen. In den Gute-Nacht-Geschichten, die er ihr erzählt, besiegt Superheldin »Bean Girl« das Böse der Welt.
Obwohl Tyler in seinem Inneren »ein Guter« ist (und dem Leser bis zum Schluss unvergessen ans Herz wächst), kann er sich den Zwängen seiner Familie nicht entziehen. Ob er will oder nicht, muss er an den dilettantischen Raubzügen seiner Geschwister mitwirken. Während die mit der vertickerten Beute ihre Süchte bedienen, muss für ihn wenigstens soviel rausspringen, dass es zum Überleben reicht.
Die Wallace-Gang geht bei ihrer Freizeitgestaltung unbekümmert spontan vor. Angeturnt mit Koks, hält das kriminelle ältere Pärchen die Augen auf, wo sich eine gute Einbruchsgelegenheit bieten könnte. Für das Urteil »gut« genügt wenig: Ein Haus steht alleine, sieht unbewohnt aus, hat wohl keine Alarmanlage. Schon kommt Tylers Stärke zum Einsatz: Er ist klein. So kann er durch ein halboffenes Fenster oder eine eingeschlagene Scheibe in das Objekt einsteigen und den beiden anderen eine Tür öffnen. Dann rafft man zusammen, was in Kissenbezügen eingesackt werden kann.
Wo so grob gehobelt wird, bleiben böse Scharten nicht aus. Eines Tages wählen die Wallaces ausgerechnet die Villa eines gefürchteten Mafiosos aus, ohne zu ahnen, mit wem sie sich da anlegen. Dem Initialfehler lassen sie einen zweiten folgen, als sie wider Erwarten auf die Hausherrin treffen. Da Barry nur brachiale Lösungswege einfallen, geht er mit seinem Messer auf die Dame los und verletzt sie schwer. Wir können uns ausrechnen, dass der »Bruch« und die Bluttat dramatische Folgen haben werden.
Dank der Erzähltechnik des Autors sind wir dem Protagonisten und seiner psychischen Zwickmühle ganz nah. Denn der Junge ist in seinem Wesen kein Krimineller, sondern gutmütig, ehrlich, mitfühlend. Weil ihm daran liegt, die verletzt zurückgelassene Frau zu retten, informiert er anonym das Krankenhaus, erkundigt sich später, wie es der Patientin geht, und wagt es sogar, sich bis an ihr Krankenbett durchzumogeln.
Tylers einziger Lichtblick in diesem Roman ist Felicity Ashcroft, genannt Flick. Das Mädchen aus reichem Hause ist – auf andere Weise – ebenfalls vernachlässigt. Ihre Eltern sind als Militärangehörige wochenlang in Krisengebieten unterwegs und mit eigenen Problemen belastet. Ihre Tochter, in einem piekfeinen Internat untergebracht, hat sich mit gehörigem Selbstbewusstsein gewappnet und nimmt sich einfach ihre Freiheiten. Zwischen Arm und Reich macht sie keine Unterschiede, nimmt Tyler mitsamt den Problemen seiner Familie (»Alle Familien sind abgefuckt«) so, wie er ist, fragt nicht viel und ist immer zur Stelle, wenn er in Not ist. Als die beiden zarte Liebesbande knüpfen, kann der Autor einfühlsam einen poetischen Ton anschlagen. Ansonsten bestimmt ein zum Milieu passender rauer Jargon die Klangfarbe der Dialoge.
Der chaotisch verlaufene »Bruch« zwingt Tyler in eine tragische Notlage. Die Polizei ist rasch auf der richtigen Spur und rückt den Wallaces auf die Pelle. Tyler soll sich äußern, schon um Bethany zu schützen. Soll er sich also der Behörde anvertrauen und damit die Loyalität zur Familie aufgeben? Einzig von seiner Entscheidung hängt es ab, welche Konsequenzen seine kleine Schwester, seine neue Freundin und er selbst tragen müssen. Indessen üben die interessierten Parteien wachsenden Druck auf ihn aus: Barry pocht auf den Zusammenhalt der Familie. »Legt euch nicht mit den Wallaces an!« – das gilt auch für Tyler. Sollte der schwach werden und wem auch immer Hinweise geben, werden Barrys Hunde selbst den kleinen Bruder zerfleischen. Und auch der Unterweltboss hat keine Skrupel, über Leichen zu gehen. Nachdem er (oder seine Leute? oder war es gar Barry?) Kelly umgebracht haben, schweben auch über Tyler Todesdrohungen.
Die Herausforderung, immer den passenden Schein zu wahren, niemals Angst zu zeigen, vor dem nächsten Schritt gründlich abzuwägen, bis es fast zu spät ist, hat der Autor besonders gut erarbeitet. Bis zum hammerharten Schluss werden Tylers Loyalitäten strapaziert wie zum Zerreißen gespannte Drahtseile. In der Freundschaft zu Flick (»Du bist das Beste, was mir seit vielen Jahren passiert ist«, sagt sie, und die Aussage gilt auch in der umgekehrten Richtung) schimmert das kleine Licht am Horizont, ein möglicher Ausweg aus dem finsteren Tunnel der sozialen Gegebenheiten von Greendyke.
Doug Johnstones Roman »Der Bruch«, übersetzt von Jürgen Bürger, fesselt den Leser von Anfang an bis zum Schluss. Es ist nicht nur ein packender Noir-Krimi, wie er düsterer kaum sein kann, sondern auch eine Studie über ein Milieu ohne positive Aussichten und ohne Hoffnung. So überzeugend wie drastisch schildert der Autor die Perspektivlosigkeit der Abgehängten, die nichts mehr zu verlieren haben, in seinen authentisch gezeichneten Figuren. Welche Zukunftschancen böten sich einem jungen Mann wie Tyler, so fragt man sich, wäre er nicht im Underdog-Milieu geboren? Vielleicht wäre er ähnlich verwinkelte und vielseitige Wege gegangen wie der Autor. 1970 im schottischen Irvine geboren, arbeitete er als Sänger, Songwriter, Journalist, Schriftsteller und, man glaubt es kaum, promovierter Atomphysiker. 2019 war »Breakers«, sein zehntes Buch, für die Wahl des besten schottischen Kriminalromans des Jahres nominiert und stand auf der Auswahlliste für den McIlvanney-Preis. (2020 folgte ihm Johnstones neuester Roman »Dark Matter« auf die Short List.)
Dass es sich hier um »gute Kriminalliteratur« handelt, begründet der Schweizer Journalist, Redakteur, Print-Unternehmer und -Berater Hanspeter Eggenberger im Nachwort. Doug Johnstone »packt sozialen Realismus in eine harte und düstere […] Geschichte, die ohne langatmige Erklärungen oder bemühte Didaktik gesellschaftliche Verhältnisse aufzeigt«. Damit unterscheide er sich wohltuend von gehypter und populärer, nichtsdestoweniger oft anspruchsloser Massenware, »von den unsäglichen Serienkillerelaboraten etwa, die mit immer abstruseren Abschlachtungen nach Aufmerksamkeit heischen […], von all den plumpen Geschichten um trottelige Ermittler«.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2021 aufgenommen.