Arminuta
von Donatella Di Pietrantonio
Völlig unvorbereitet und ohne jede Erklärung wird eine Dreizehnjährige in eine andere Familie verpflanzt, aus einem wohlgeordneten Bürgerhaushalt in einer Küstenstadt in die primitive und ärmliche Umgebung eines abgelegenen Dorfes in den Abruzzen.
Die Bedeutung einer Mutter
Das Mädchen ist dreizehn, sensibel, intelligent und aufgeschlossen. Die fürsorglichen Eltern haben das Einzelkind wohlbehütet großgezogen und in allem gefördert. Die Familie wohnt in einem gepflegten kleinen Haus direkt am Strand. Eines Tages fährt ihr Vater – er ist Carabiniere – mit ihr hinauf zu einem Bergdorf in den Abruzzen und gibt sie dort samt Gepäck bei ihr fremden Leuten ab, die, so hat man ihr mitgeteilt, ihre leibliche Familie seien. Ihre Proteste stimmen den Vater nicht um, er lässt sie alleine zurück.
In der Tat ist Adalgisa, die sie ihr Leben lang »Mutter« nannte und die diese Rolle untadelig ausgefüllt hatte, eine Cousine ihrer leiblichen Mutter, bei der sie nun einzieht. Sie hatte das Kind – ihr drittes oder viertes – mit sechs Monaten an die »Tante« abgegeben, die sich ein Kind wünschte, aber selber keines bekam. Bis zum Tag der Rückgabe im August 1975 gab es fast keinen weiteren Kontakt zwischen den Familien.
Dem Mädchen ist mit einem Mal der Boden unter den Füßen entzogen. Von einem Tag auf den anderen hat sie keine Mutter, keine Familie, kein Heim mehr – und gleichzeitig zwei Mütter, zwei Familien, zwei Heime: »Mit zwei lebenden Müttern wurde ich zum Waisenkind.«
Wohin gehört sie jetzt? Welche sind ihre Wurzeln? Zu wem kann sie noch Vertrauen fassen, wenn die eine Mutter sie schon als hilfloses Baby weggegeben, die andere sie aus der Geborgenheit ihres jungen Leben herausreißen und zurückschicken konnte wie einen Gegenstand, dessen man überdrüssig ist? Woran kann sie sich klammern? An die Hoffnung, einmal zu Adalgisa zurückkehren zu dürfen?
Niemand hat ihr einen Grund genannt, warum sie zwei Mal im Leben abgeschoben wurde, deshalb ist sie ratlos und verzweifelt. Sie urteilt nicht, sondern will begreifen: Welch furchtbare Last müssen Frauen im Herzen tragen, dass sie sich von ihrem hilflosen Neugeborenen und einer über Jahre liebgewonnenen Tochter zu trennen vermögen? Dass die Mutter in letzter Zeit erkrankt war, ist ihr nicht entgangen. Will man dem Kind das Leiden oder gar den Tod der Mutter ersparen? Welchen schweren Fehler hat sie begangen, dass sie ihr nicht beistehen darf?
Die neue Umgebung könnte nicht unterschiedlicher sein. Das Leben im Haus der »Dorfmutter« ist, anders als das der »Meermutter«, von Entbehrung und Verzicht gezeichnet. Stumpfheit, ein rauer Ton und Schläge bestimmen die Begegnungen zwischen den ungepflegten und ungebildeten Familienmitgliedern. Sie sind nicht böse und nicht herzlos, aber unbeholfen und unfähig, ihre Gefühle auszudrücken. Die Wohnung ist verwahrlost und viel zu klein. Die fünf Kinder vom Säugling bis zum Fünfzehnjährigen schlafen in einem muffigen Zimmer, teilen sich versiffte Betten.
Entwurzelung und Verlorenheit der neu Angekommenen werden durch ihre Namenlosigkeit versinnbildlicht. Niemals wird sie mit ihrem Namen angesprochen, nicht einmal sie selbst erwähnt ihn. Die Kinder im Ort und auch ihre Geschwister nennen sie »die Arminuta«, was im Dialekt »die Zurückgekommene« bedeutet und nicht als Willkommensgruß, sondern verächtlich gemeint ist. Gern spuckt man auf den Boden, wenn man der vermeintlich Hochnäsigen aus einer fernen Welt begegnet.
In Wirklichkeit ist das Mädchen alles andere als arrogant. Sie jammert nicht dem Verlorenen hinterher, sondern arrangiert sich mit unveränderlichen Gegebenheiten. Sie teilt sich ein Bett mit der drei Jahre jüngeren Schwester Adriana, ignoriert deren schmuddelige Verfassung, kantige Emotionalität und allnächtliches Bettnässen. Bald verbindet die beiden über alle Unterschiede der Sozialisation hinweg Verständnis und Solidarität – eine wahre Freundschaft, die beiden guttut und Jahrzehnte überdauern wird. (»Arminuta« erzählt ihre Geschichte aus der Rückschau der Erwachsenen.)
Niemals aber will sich die unfreiwillig Zurückgekommene in ein Schicksal fügen, das andere für sie bestimmt haben. »Ich bin doch kein Paket, hört gefälligst auf, mich herumzuschubsen«, insistiert sie. Lange bleiben die Hintergründe für sie unsichtbar. Unermüdlich grübelt sie, was Adalgisa und ihren Mann bewogen haben mag, sie zurückzugeben, warum sich die beiden vor ihr verstecken, warum auch ihre anderen Eltern schweigen. Sie versucht, die Verantwortlichen und Beteiligten zur Rede zu stellen, und erkennt doch immer wieder nur ihre Machtlosigkeit. Trotzdem gibt sie die Hoffnung auf eine Wendung zu einer besseren Zukunft nicht auf.
Eine bedeutsame Wirkung übt Vincenzo aus, der fünfzehnjährige Bruder mit seinem zwiespältigen, noch ungefestigten Charakter. Wenngleich seine Zudringlichkeiten dreist und ungeschliffen sind, gibt er dem Mädchen doch als einziger (neben Adriana) das Gefühl, noch als Mensch geliebt zu sein. Ehe die beidseitige Hormonaufwallung zum Problem werden kann, nimmt der Junge ein tragisches Ende.
Eine Perspektive, das Bergdorf zu verlassen, öffnen der Erzählerin ihre herausragenden schulischen Leistungen. Ihre Lehrerin drängt die bildungsfernen Eltern, das kluge Mädchen unbedingt bei einem Gymnasium in der Stadt anzumelden – für »die Arminuta« eine starke Waffe auf dem Weg zu einer selbstbestimmten Existenz.
Dies ist ein schlichter, stiller Roman, der in schmuckloser Alltagssprache einen einfachen Handlungsverlauf wiedergibt. Ihre Kraft gewinnt die Erzählung daraus, wie sie ihre Themen durchdringt. Im Vordergrund steht die Suche nach der eigenen Identität, die bei der Erzählerin so abrupt und schmerzvoll ausgelöst wird. Damit einher geht, wie die elementare, facettenreiche Notion »Mutter« bei ihr in ein Nichts zerfließt. Die Autorin lässt sie metaphorisch zu einem Ort gerinnen: »Es ist eine anhaltende Leere, die ich kenne, aber nicht überwinde … Eine trostlose Landschaft, die einem nachts den Schlaf raubt und das bisschen, das sie einem lässt, mit Albträumen füllt«. Mit der Mutter verliert das Kind jede Gewissheit, jedes Zugehörigkeitsgefühl und muss obendrein die Schuldgefühle verarbeiten, die sich in ihr Gewissen einschleichen. Die Erwachsenen müssen sich fragen, was Mutterschaft bedeutet, welche Verantwortung aus ihr resultiert, wie schwierig es ist, ihr gerecht zu werden, wenn Leid oder Not keine Wahlfreiheit mehr lassen.
Die Schauplätze sind kaum individualisiert und erzeugen doch eine greifbare Stimmung. Die große, moderne Küstenstadt (Pescara?) bietet Sorglosigkeit, Offenheit, Chancenvielfalt. Die keine hundert Kilometer entfernte Bergregion der Abruzzen (mit dem Gran-Sasso-Massiv) ist dagegen von der Welt abgeschnitten und rückständig, der Menschenschlag wirkt hart und dickfellig, ihr Dialekt spröde. Die Kinder im Roman haben noch nie Eis gegessen, die Erwachsenen noch nie das Meer gesehen. Ein Fernsehgerät ist Luxus, Vincenzos Moped ein Statussymbol. Seit Urzeiten zerstören Naturkatastrophen (Bergrutsche, Lawinen, Erdbeben – wir erinnern uns an L’Aquila 2009 und Amatrice 2016) ganze Lebenswerke, und den Menschen blieb bis in unsere Tage keine andere Wahl, als Schicksalsschläge und Ungerechtigkeiten ihres Daseins mit Gleichmut zu ertragen. So gab es hier (und in anderen armen Gegenden Italiens) bis weit ins zwanzigste Jahrhundert die schmerzliche Praxis, ein Neugeborenes im Verwandtenkreis abzugeben, wenn man es selbst nicht würde großziehen können.
Donatella di Pietrantonio, 1963 geboren, wuchs bis zu ihrem neunten Lebensjahr selbst in so einem abgelegenen Dorf auf. Heute arbeitet sie als Kinderzahnärztin in der Provinz Teramo. Als sie 2017 für »L’Arminuta« den renommierten Premio Campiello erhielt, widmete sie ihn gerührt den Abruzzen, ihrer Heimat, die »ein furchtbares Jahr hinter sich hat, die Erdbeben, Erdrutsche und Brände ertragen musste«.
Nachtrag 2020: »L’Arminuta« ist nun auch in Reclams Roter Reihe erschienen. Das preiswerte Bändchen enthält den italienischen Originaltext mit deutschen Worterklärungen am Fuß jeder Seite – ein wunderbares Angebot für jeden schon etwas fortgeschrittenen Italienisch-Lernenden.