Marseille.73
von Dominique Manotti
In Marseille ermordet ein Algerier einen weißen Busfahrer. Die Tat löst eine rassistische Hetze gegen die nordafrikanische Bevölkerung aus. Wenige Tage später wird ein sechzehnjähriger Algerier ohne jeden Anlass erschossen. Niemand scheint Interesse an der Aufklärung dieses Mordes zu haben.
Gelehrter Thriller
Seit 1830 war Algerien eine französische Kolonie. Erst 1962 erlangte das Land nach einem Referendum, einem Putsch und Terrorakten wieder seine Unabhängigkeit. Hunderttausende Algerienfranzosen und Flüchtlinge zogen nun nach Frankreich, doch blieben sie dort unintegriert. Im öffentlichen Leben beider Länder wurden die unruhigen Jahre und teilweise unrühmlichen Vorgänge der Loslösung bis in die Neunzigerjahre weitgehend verdrängt und tabuisiert. In Frankreich brachen in der wachsenden Schicht der an den Rand gedrängten Migranten immer wieder gewalttätige Unruhen aus, die in der einheimischen Bevölkerung Unverständnis und Hass bewirkten. Brennpunkte solcher Ereignisse waren die Vorstädte der Metropolen wie Paris und der südlichen Hafenstadt Marseille.
In diesem Kontext trägt sich die Handlung von Dominique Manottis Roman zu. Die Autorin konzentriert sich auf einen Zwischenfall aus dem Jahr 1973, den sie für bezeichnend erachtet, deswegen in allen Details analysiert und seine Hintergründe herausarbeitet. In den Nachbemerkungen fasst sie die Faktenlage zusammen: »Laut der algerischen Botschaft in Frankreich hat die Krise vom Sommer und Herbst 1973 in der algerischen Bevölkerung von Marseille ca. 15 Tote gefordert, rund 50 in ganz Frankreich. […] Über den gesamten Zeitraum dieser Morde werden nur zwei Täter gefasst. […] In allen anderen Fällen wird der Vorgang entweder ohne weitere Ermittlung zu den Akten gelegt oder das Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt.« Wie ist es zu erklären, dass so viele offensichtliche Kapitalverbrechen unaufgeklärt blieben?
Im Mittelpunkt des Romans steht der Mord an einem algerischen Jugendlichen in Marseille. Auf dem Mäuerchen einer Caféterrasse sitzt der sechzehnjährige Malek und blickt auf den menschenleeren Boulevard. Er erwartet eine Freundin, mit der er sich auf eine Cola verabredet hat. Sein älterer Bruder hatte diesem abendlichen Treffen nicht zugestimmt, denn das Viertel ist in Unruhe. Wenige Tage zuvor hatte ein Algerier einem weißen Busfahrer mit einem Messer die Kehle durchtrennt, die üble Bluttat schürte die ohnehin verbreiteten Vorurteile und den Hass gegen die Nordafrikaner, und eine neuerliche rassistische Hetzkampagne nahm ihren Anfang.
Inzwischen rollen zwei Autos im Zeitlupentempo durch das Viertel, als suchten sie eine bestimmte Adresse. Malek nähert sich, wendet sich dem Beifahrer zu, geht in die Knie, um Auskunft zu geben. Da streckt ihn ein Schuss in die Brust nieder, abgefeuert aus nächster Nähe. Eine zweite Kugel »zerfetzt das Brustbein […], eine dritte Kugel streift eine Schulter«. In wenigen Sekunden ist ein junges Leben ausradiert – und ehe der Wirt und seine beiden Helfer erfassen, was passiert ist, sind die beiden Autos längst davongerast.
Nun treten die Ermittler der Brigade Criminelle auf den Plan. Was Commissaire Théodore Daquin, Inspecteur Grimbert und Inspecteur Delmas nach und nach als Folgen des Mordfalls aufdecken, entwickelt sich zu einem ungeheuerlichen Vertuschungs- und Justizskandal. Manche Polizeibeamte wollen den Mord als »Abrechnungen im Mafia-Milieu« zu den Akten legen. Wenn das nicht machbar ist, wird man in der Vergangenheit der Familie wühlen und ganz sicherlich eine kriminelle Tat ausgraben, die man ihnen anhängen kann. Notfalls darf man nicht davor zurückschrecken, ein bisschen nachzuhelfen. Irgendwie wird das Mordopfer selber eine Mitschuld an seinem Schicksal tragen.
»Marseille.73« (von Iris Konopik übersetzt) ist eine Mischung aus Kriminalroman, Noir und Politthriller. Darüber hinaus verfolgt die Autorin höhere Ziele. Die promovierte Historikerin Marie-Noëlle Thibault, 1942 in Paris geboren, entdeckte ihre literarische Berufung erst im Alter von fünfzig Jahren und veröffentlichte schon ihren ersten Roman unter dem Pseudonym ›Dominique Manotti‹. Seither erhielt sie für ihre intensiv recherchierten Bücher über diffizile und diskussionswürdige Phasen der französischen Geschichte etliche Literaturpreise, darunter Prix Mystère de la Critique, Grand prix de littérature policière, Deutscher Krimipreis, Duncan Lawrie International Dagger. Auch in ihrem aktuellen Werk thematisiert sie einen Stoff, der sie besonders bewegt, nämlich der Rassismus gegen nordafrikanische Einwanderer und seine Hintergründe in der französischen Nordafrikapolitik. Mit wissenschaftlicher Ambition und Kompetenz breitet sie die historisch-politischen Zusammenhänge aus, wie es jedem Fachbuch zur Ehre gereichen würde.
So wird der Handlungsstrang des Mordfalls Marek in recht sprödem, kargem Stil als fortlaufendes, akribisch genaues Protokoll im Präsens dargestellt – es umfasst den Zeitraum von Mittwoch, 15. August, bis Montag, 8. Oktober 1973. Unterbrochen wird die Handlung immer wieder von einer Unmenge an Informationen über die Abteilungen des Polizeiapparates in Marseille und behördliche Formalitäten, über Verbände, Komitees, Gewerkschaften und Bewegungen, dazu unzählige Abkürzungen sowie Namen von Aktivisten, die Gruppen gegründet haben und anführen, sowie Details zur Algerienpolitik und deren Folgen. Schön, dass man sich in den Anhängen am Ende des Buches Orientierung verschaffen kann, aber beim Lesen eines Thrillers ist man nicht gerade erpicht darauf, rätselhafte Formulierungen durch Blättern zu klären. Wer als gewissenhafter Leser sein Verständnis absichern möchte, muss jedoch wohl oder übel seinen Lesefluss oft unterbrechen – und ist vielleicht frustriert.
Am Ende bleibt der Nachhall einer aufgewühlten Epoche in Frankreichs jüngerer Vergangenheit. Wir erleben die Atmosphäre einer zwischen Rechtspopulisten und Linksliberalen zerrissenen, gewaltbereiten Stadt und ein rassistisches Verbrechen, an dessen Aufklärung Polizei und Justiz wenig Interesse haben. Präziser als Dominique Manotti wird wohl kein anderer Schriftsteller einem Politthriller eine derart detaillierte Zeitdiagnose mitgeben. Doch das hat seinen Preis: Der Faktenreichtum bremst Leichtigkeit, Spannung und Unterhaltungswert der Story.