Rezension zu »Angst« von Dirk Kurbjuweit

Angst

von


Belletristik · Rowohlt · · Gebunden · 256 S. · ISBN 9783871347290
Sprache: de · Herkunft: de

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Der Feind in meinem Haus

Rezension vom 21.03.2014 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Tisch und Stühle sind »am Boden festgeschraubt«, wo Hermann Tiefenthaler, 78, Architekt im Ruhestand, lebt. Sein Sohn Randolph (45) ist traurig, ihn dort »so sitzen zu sehen, in seiner ausgeleierten Hose, die er ohne Gürtel trägt, in seinem verschlissenen Hemd« – und schweigend.

Der alte Mann ist nicht im Altersheim und nicht in der Psychiatrie. Er wurde ein halbes Jahr zuvor wegen vorsätzlichen Mordes zu acht Jahren Haft verurteilt.

Was mag den lebenslang unbescholtenen Bürger im hohen Alter zu einer Gewalttat bewogen haben? »Mein Vater könnte reden, aber er will nicht mehr. Er ist ... erschöpft von diesem langen Leben, das er schwierig fand«, weiß Randolph Tiefenthaler, Architekt auch er, und zeichnet für uns das Leben seiner Familie nach, die durch »Zufall und Zwangsläufigkeit« in eine existenzbedrohende Lage geriet, aus der es am Ende nur einen ihm gänzlich inakzeptablen Ausweg zu geben schien.

Den beunruhigenden Werdegang erzählt Dirk Kurbjuweit, Autor und Journalist (»Zeit«, »Spiegel«), in »Angst«, einem scharfen Roman-Hauptgang ganz besonderer Art: ein deftiges Handlungssteak, gegart in gereiften Reflexionen vom selbstkritischen Intellektuellen, gewürzt mit echten Psychothriller-Körnern, ge­spickt mit einer sozialpolitischen Chilischote, mit leicht abgedämpfter Spannung serviert.

Nach gründlicher Recherche erwirbt Randolph Tiefenthaler für seine Vier-Personen-Familie eine Eigen­tumswohnung in Berlin-Lichterfelde-West: Hochparterre mit Gartenzugang in denkmalgeschütztem Grün­derzeit-Bau, nur vier Parteien.

Das »Gefühl, dass es ein Fehler war, diese Wohnung gekauft zu haben«, befällt Randolph sechs Wochen nach dem Einzug, als er versehentlich die falsche Klingel betätigt und der Bewohner aus dem Souterrain die Haustür aufreißt. Er ist höchstens vierzig, nicht groß, aber »straff dick«, und in seinem Blick wähnt Randolph »Schläue ... Gereiztheit ... Überlebenswille ... Angst«. »Zu mir wollen Sie ja wohl nicht«, sagt der Mann.

Eines Tages liegt ein Brief auf der Fußmatte der Tiefenthalers. Dieter Tiberius, der Souterrain-Mieter (ein arbeitsloser Hartz-IV-Empfänger, wie sich inzwischen herausgestellt hat), gesteht darin Randolphs Ehefrau Rebecca, dass er sie liebe, aber als ehemaliges Heimkind zu »überschwänglichen Gefühlen« neige.

Die Absurdität des Ansinnens, vorgebracht in sauberer Schrift und sicherer Rechtschreibung, löst Heiter­keit aus (»Ein hässlicher, fetter Zwerg hatte sich in meine schöne, kluge Frau verliebt.«), doch gleich zügelt Randolph derlei »Dünkel«, der nicht mit seiner »aufgeklärten Bürgerlichkeit« in Einklang steht.

Bald folgen weitere Briefe, Gedichte, obszöne Inhalte. Die Tiefenthalers sind verunsichert, weisen Tiberi­us in die Schranken. Der schlägt mit der Behauptung zurück, er habe Beweise, dass sie ihre beiden Kinder sexuell missbrauchten, und erstattet Anzeige.

Die gutbürgerliche Familie findet sich am Pranger, weil ein verquerer Stalker sie durch den Dreck dorthin gezogen hat. Wie können sie sich vor seinen irrational motivierten und abstrusen Attacken schützen?

Über das Engagement einer Anwältin geraten die Tiefenthalers in die ernüchternden Mühlen des Rechts­staats, wo »rechtschaffen« und »wohlanständig« zu sein ebenso wenig zählt wie »im Recht zu sein«. Rele­vant ist hingegen, dass es da eine »soziale Dimension« gebe. Eine schlichte gerichtliche Anordnung, dass Tiberius einen Mindestabstand von fünfzig Metern einhalten muss: unwahrscheinlich. Der Versuch, ihn aus seiner (vom Amt bezahlten) Mietwohnung zu klagen: abgewiesen.

Indes heizt Tiberius den Konflikt auf, indem er die Medien auf die angeblichen Kinderschänder aufmerk­sam macht. Freiberufler Randolph muss ernstlich um seine »Reputation« fürchten. Unter dem wachsenden Druck kommt es zu einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten. Während Randolph seinen Widersacher hilflos beschimpft, befragt, beleidigt, bleibt der gelassen – und erstattet anschließend Anzeige, Tiefenthaler habe ihm mit »Mord gedroht«.

Die »soziale Dimension« quält Tiefenthaler zunehmend. »Hochparterre« gegen »Souterrain« – ist das nicht hochgradig symbolisch aufgeladen? »Architekt, verheiratet mit einer schönen Frau, zwei Kinder, wohlha­bend, bürgerlich« gegen »ehemaliges Heimkind, arbeitslos, allein, Hartz-IV-Bezieher«, kurz »Privilegierter« gegen »Unterprivilegierter« ... Das wohlige Bewusstsein der Qualitäten seiner Existenz weicht der Angst, dass eben diese von »Sozialarbeitern, Journalisten« gegen ihn gewendet werden könnten: »Am Ende wäre es meine Schuld, die Schuld meiner Schicht, dass Herr Tiberius sich auflehnen musste. Ihm würde der Sieg gewünscht, mir die Niederlage, und deshalb würde ihm zum Sieg verholfen.«

In nüchternem Ton beschreibt der Autor, was eine solche Ausnahmekonstellation aus aufrechten Menschen machen kann. Selbstquälerisch hinterfragen die Eltern den früher ungezwungenen Umgang miteinander und den Kindern; sollte es womöglich doch eine Nacktheit, ein gemeinsames Baden jenseits des Normalen gegeben haben? Letzte Sicherheiten geraten ins Wanken: Ungewissheit und Angst bringen im Kopf beider Partner unerträgliche Bilder hervor, sie entwickeln in Verhalten und Denken eine prüde Verkrampftheit.

Immerhin drängt die Bedrohung von außen die Eheleute, wieder aufeinander zuzugehen. In den letzten Jahren waren Schweigen und Leere zwischen sie gezogen. Randolph hatte es sich angewöhnt, in Sterne­lokalen kreativ zu speisen – allein mit seinem Skizzenblock. (Seine exklusiven Menüfolgen reibt uns der Autor appetitanregend unter die Nase.)

Kurbjuweit zielt bei der Gestaltung seines Stalking-Falles nicht auf Zuspitzung und Nervenkitzel (wiewohl auch diese Zutaten kräftig durchschmecken). Vielmehr formt er ein komplexes Bild vielschichtiger Ängste und ihrer Auswirkungen. Er legt dazu einen langen, ruhigen Erzählfluss an – ganze Seiten bleiben ohne Absatzgliederung. Sein Erzähler ist ein Wortklauber, der seine Offenbarungen pingelig portioniert und ar­rangiert und seine Räsonnements fein ziseliert, um niemandem ungebührlich weh zu tun. Brav bleibt er bei der respektvollen Bezeichnung »Herr Tiberius« – und schaudert, als seine Frau das böse Wort »›unser Un­termensch‹« fallen lässt (was sie natürlich rein »haustopographisch« gemeint hat). Die zündenden Äuße­rungen des Herrn Tiberius ließen sich hingegen auf einer Seite zusammenfassen.

Die Angst des Herrn Tiefenthaler vor dem Monster aus dem Souterrain beherrscht den Mann und bricht ihn um, rückt aber auch seine mannigfachen anderen Ängste ins Bewusstsein. Schon als Kind litt er unter dem Gewaltpotenzial des Elternhauses: Sein Vater, ein schweigsamer Waffensammler und Sportschütze, trug ständig eine Pistole unter der Achsel, und alle Waffen im Haus waren geladen. Dass sein Sohn ganz an­de­re Wege beschritt, entfremdete die beiden von einander, bis die Tiberius-Krise eine unverhoffte An­nähe­rung zeitigte.

Randolph weiß um seine eigene Unzulänglichkeit, die Anfälligkeit eines Genussmenschen, die unzurei­chen­de Standfestigkeit seiner Prinzipien, die Fragilität seiner Kultur. Als Aufsteiger hat er ein Lebenswerk zu verteidigen, und mit all diesen Verlustängsten findet er sich hilflos alleingelassen, wo Rechtsstaat und Vernunft keine Macht haben. Absurderweise ist er Tiberius unterlegen und ausgeliefert. Wer im Leben nichts mehr zu verlieren hat, ist der Stärkere und kann sich frech jede Herausforderung erlauben. Dagegen ringt der angezählte Verlierer, in die Ecke gedrängt, mit der Unmöglichkeit des Nachweises, etwas nicht getan zu haben.

Was ist konkret zu tun? Wegziehen hieße klein beizugeben. Sich zu wehren erfordert nicht vorhandene Qualitäten. Selbst Rebecca »kann entschiedener auftreten als ich«, wenn es hart auf hart kommt, auch schreien wie eine Wahnsinnige und ungeachtet der Folgekosten Orangen an die Wand pfeffern; der Rumä­ne Mircea mit den magischen Heilerhänden verachtet die Deutschen als ein Volk verweichlichter Schlapp­schwänze – er würde kurzen Prozess mit Tiberius machen; Tiefenthaler sen. besitzt die geeigneten Werk­zeuge dafür, und Randolphs robuster Bruder Bruno kennt Leute, die so etwas gerne erledigen, wenn jemand selbst nicht Manns genug ist. Für einen feinfühligen, kunstsinnigen Intellektuellen und einstigen Kriegs­dienstverweigerer kommt freilich eine derbe Gewaltlösung aus Prinzip nicht in Frage.

Die Lösung ist Dirk Kurbjuweits Überraschung.


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