Die Insel Capri. Ein Portrait
von Dieter Richter
Capri, das sind zehn Quadratkilometer im Golf von Neapel, die seit vielen Jahrhunderten die unterschiedlichsten Menschen vom Spinner bis zum Kaiser in ihren Bann ziehen und nicht mehr loslassen. Warum eigentlich? Dieter Richter gibt alle Antworten.
Die Sirene unter den Inseln
Sparen wir uns die Liste all der Prominenten, die sich in den letzten zweihundert Jahren auf die kleine Insel Capri im Golf von Neapel locken ließen. Die meisten von ihnen – Künstler, Adlige, Erben, Ärzte, Industrielle, Dandys, Politiker, Emporkömmlinge, Philosophen, Stars, Wissenschaftler, Militärs hauptsächlich aus Deutschland, Großbritannien, Russland und Amerika – blieben für den Rest des Lebens Gefangene ihres süßen Zaubers. Viele von denen, die es sich leisten (oder sich bedürfnislos durchschlagen) konnten, residierten für ein paar Wochen, Jahre oder Jahrzehnte. Andersherum ist die Sache einfacher: Goethe beispielsweise hat das Eiland nie betreten.
Hinzu kommen die Myriaden von Tagestouristen, die am Vormittag aus Napoli oder Sorrento herübergeschaufelt werden, die Insel mit ihrer Körperlichkeit und ihrem Geld überschwemmen und sie am Abend wieder ihrem stillen Frieden überlassen. Kamen um 1910 immerhin schon 80 bis 100 Besucher pro Tag, waren es Mitte der Dreißigerjahre etwa sieben Mal so viele. Nach dem Krieg explodierten die Zahlen: knapp zweitausend im Jahr 1950, 3.400 zehn Jahre später und fast 6.400 in 2016. An Spitzentagen kommen und gehen über 10.000 Menschen. Das Lamento über den fatalen Ansturm der Massen gehört seit hundert Jahren zum Ritus der Einheimischen wie der Fremden. Merkwürdig: Trotz des Andrangs sucht noch immer jeder Einzelne einen Zauber, der längst zertrampelt und erstickt sein müsste.
Die Hauptsehenswürdigkeiten, also die Orte, an denen sich der Zauber der 10,4 Quadratkilometer vermeintlich manifestiert, kann, wer will und sich gut organisiert, tatsächlich im Laufe eines Tages abklappern. Man hat dann gesehen, aber nicht ergründet und nicht verstanden. Dieter Richter, 1938 geboren, emeritierter Literaturprofessor und profunder Kenner der Region, wählt in seinem Buch »Die Insel Capri. Ein Portrait« den entgegengesetzten Ansatz. Er folgt keinem Rundgang über die Insel, sondern sucht ihr schillerndes, komplexes Wesen zu vermitteln, indem er das Gesamtkunstwerk im Meer unter diversen Aspekten ausleuchtet. Dabei werden die verschiedenen Strata und ihre Wechselwirkungen untereinander und in der Zeit erkennbar, also die Morphologie der Insel, die Gesellschaft ihrer Bewohner (höchstens 4.000 im 19. Jahrhundert, heute um 14.000), die Artefakte (Wege, Treppen, Bauwerke, Gärten), Kunst und Architektur, historische Ereignisse, geistiger Überbau (Mythen, Legenden, Philosophien, Ideologien, Atmosphärisches, Verklärung).
Entsprechend charakterisieren die neun Hauptkapitel Capri als Gegenpol zum Festland, als geteilte, therapeutische, kosmopolitische, politische Insel, als die Insel des Tiberius, als Utopia und Nicht-mehr-Insel. Jedes dieser Hauptthemen ist zunächst an einen markanten Ort geknüpft, von dem die Betrachtungen ihren Ausgang nehmen, wie Piazzetta und Villa Iovis, Marina grande und Cimitero acattolico. Die jeweils fünf bis zehn Unterkapitelchen differenzieren weiter: Die Insel umrunden – Hier wird man gesund – Das blaue Feuer der Romantik – Die Welt von Capri aus retten – Die Lieblingsinsel des Faschismus.
Gewiss ist der Autor dem Gesang der Sirene selbst gern gefolgt, aber nicht blind verfallen. Jedenfalls sind die 170 Textseiten gesättigt mit scharfen Beobachtungen der bisweilen gar nicht so paradiesischen, sondern eher abschreckenden Verhältnisse, mit unerwarteten Einblicken in intime, ausgefallene Quellen (wie Briefe, Grabsteine, Gästebücher), mit nüchternen Analysen. Hier schöpft ein hochgebildeter, umfassend belesener Experte aus dem Vollen seines Schatzes, und der Leser genießt die Reise mit, nicht zuletzt dank der essayistisch geschulten, präzisen Ausdrucksweise, die anregt und unterhält, mit Trivia ebenso wie klugen Erkenntnissen.
Am Ende des Buches ist man vertraut mit dem Wesen dieser Insel der Romantiker, Esoteriker, Weltflüchtigen, Erotiker, Heilung Suchenden, Avantgardisten, Einsiedler, Geschäftemacher, Weltverbesserer, Investoren, Dekadenten, Literaten und Sonnenanbeter, und im Vorbeigehen hat man jeden bedeutsamen Ort besucht, viele mehrmals, je nach Kontext. Der Autor bleibt den Geboten wissenschaftlichen Arbeitens treu (Fußnoten, akribische Quellen- und Literaturnachweisung, allenfalls mag man das Fehlen eines Registers und einer besseren Karte beklagen), dennoch (wenn das denn ein Gegensatz ist) verschlingt man als Amateur die Seiten begierig und genüsslich.
Vor einem Capri-Besuch gelesen, stimmt dieses nuancenreiche Portrait auf das Traumziel im Golf von Neapel ein. Vor Ort ergänzt es den Reiseführer – und für die Glücklichen, die dem Sirenengesang gleich mehrere Tage lang folgen können, ersetzt es ihn vollends.