Rezension zu »Der Tod der Kitty Genovese« von Didier Decoin

Der Tod der Kitty Genovese

von


Thriller · Arche · · Gebunden · 160 S. · ISBN 9783716026601
Sprache: de · Herkunft: fr

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Nichts hören, nichts sehen, nichts tun

Rezension vom 17.04.2011 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

So wie das Meer, wenn es sich zurückzieht, bei Ebbe einen Bodensatz aus toten Fischen, Muscheln, Shampooflaschen, Obstkisten hinterlässt, so bleiben auch in New York an jedem Morgen Verwüstungen und Unrat der Nacht zurück. Die 28-jährige Kitty Genovese ist zum Strandgut der Nacht geworden. Winston Moseley hat sie erstochen und vergewaltigt. Doch Kitty starb nicht allein: An jenem 13. März 1964 zwischen 3.15 und 3.50 Uhr schauten Nachbarn durch die Fenster ihrer wohlig-warmen Wohnungen zu, hörten sogar die Hilfeschreie – aber niemand rief die Polizei oder den Rettungsdienst. Man mischt sich besser nicht ein, das geht einen nichts an, die Ruhestörung ist bald vorbei (Einer der Zeugen hat tatsächlich sein Radio laut gestellt, um nicht weiter gestört zu werden.) , und vielleicht hat ja schon jemand anders die Polizei informiert; so begründeten sie später ihr Verhalten. Der damals Aufsehen erregende Fall wurde wissenschaftlich analysiert, und die Psychologie spricht seither vom "Bystander"-Effekt.

Das Phänomen, dass die Bereitschaft einzugreifen mit zunehmender Anzahl der Zuschauer sinkt und im Ergebnis niemand die Verantwortung übernehmen will, kann täglich an Ballungsorten wie Bus- und Bahnhöfen, in Innenstädten und Schulen beobachtet werden. Wir erinnern uns noch alle an Dominik Florian Brunner, der am 12. September 2009 von zwei Jugendlichen an einem Münchner S-Bahnhof ermordet wurde, nachdem er zuvor vier Schüler vor ihren Aggressoren schützen wollte; viele wartende Fahrgäste hatten weggeschaut ...

Obwohl unterlassene Hilfeleistung in Deutschland – anders als in Amerika! – strafrechtlich verfolgt wird und im äußersten Fall mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden kann, läuft das Verhalten der Beteiligten nach bekanntem und erforschtem sozialpsychologischen Muster ab.

Didier Decoin, der für seinen True-Crime-Roman den Prix Goncourt erhielt, hat auf 160 Seiten nicht nur die "Mitschuld" der Zeugen (die ihnen völlig unbewusst ist) , sondern auch den Tathergang, die Gerichtsverhandlung, das Leben des Täters vor seiner Festnahme und während der Haft, das Verhalten der Medien und anderes auf den Punkt genau beschrieben. Kompakt: kein Satz zuviel.

Seinen Sprachstil passt er dem jeweiligen Geschehen perfekt an: Gefühlvoll beschreibt er das Leben Kittys, die so gerne von ihrem Erspartem zusammen mit ihrem Vater ein italienisches Lokal eröffnet hätte. Sie hatte eine lesbische Beziehung, die zur damaligen Zeit nur im Geheimen stattfinden durfte.

Zu dem eiskalten Moseley hält Decoin Abstand. Lakonisch berichtet er, dass für diesen Täter seine Morde nichts Verwerfliches seien. "Kitty hatte denselben Fehler begangen wie eine Fliege" – sie war ihm zu nahe gekommen und geriet in die Reichweite seiner Mordlust (S.130).

Dass Kittys Geschichte bzw. der "Bystander"-Effekt derartig Furore macht, ist einem Journalisten der New York Times zu verdanken. Seine Recherchen beginnen, nachdem der Täter schon gefasst ist und gestanden hat. Der Autor wechselt hier zu einem journalistisch-investigativen Sprachstil.

Die kurzen, aber bedeutendsten Passagen aus den Gerichtsverhandlungen haben protokollarischen Charakter.

Was mich neben der Tatenlosigkeit der Nachbarn fast noch mehr entsetzt hat, ist ihre Sensationsgeilheit. Nachdem Kitty tot ist, wollen alle etwas aussagen und mitreden, denn gehört oder gesehen hat jeder irgendwas.

Ein beeindruckender Roman, der durch seinen starken Realitätsbezug fast wie ein Dokument des Zeitgeschehens wirkt. In der Tat fließen auch aktuelle Ereignisse in die Handlung ein, wie z.B. Martin Luther Kings berühmte Rede "I have a dream" am 28. August 1963 und das Attentat auf John F. Kennedy im November desselben Jahres.

P.S.: Wie hätte ich mich wohl in jener Nacht verhalten? Und Sie? Hoffentlich verhindert die Lektüre über den "Bystander"-Effekt, dass wir – sollten wir einmal in eine ähnliche Situation geraten – unreflektiert zu stillen Mittätern werden ...


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