Dalee
von Dennis Gastmann
Ein kleiner Junge reist mit seiner Familie und ihrem Arbeitselefanten zu einer ungastlichen Insel im Indischen Ozean. Das Einleben dort ist hart, aber die Freundschaft zu dem Tier innig und unverbrüchlich – bis es vom Alter eingeholt wird. Ein farbenprächtiger Roman voller Exotik, Abenteuer, Realismus, Poesie und Tragik.
Freund, Gefährte – und Gefahr
Dennis Gastmann, 1978 in Osnabrück geboren, arbeitet seit vielen Jahren als Journalist, Filmemacher und Reisereporter für diverse Magazine und Formate des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Seine Erlebnisse bei ungewöhnlichen Reisen in der ganzen Welt veröffentlichte der Abenteurer und Weltenbummler zudem in etlichen Büchern, und persönliche Eindrücke sind sicher auch in seinen ersten Roman eingeflossen, der 2023 erschienen ist. Schon der exotische Schauplatz weckt Neugier, und die Plot-Zusammenfassung des Rowohlt-Verlages verspricht eine spannende Handlung voller Wagnisse, Schicksalsschläge, Hoffnungen, Erfolge und Verluste in einer Phase des politischen Umbruchs. Um das Fazit vorwegzunehmen: »Dalee« erfüllt all diese Erwartungen aufs Beste und verzichtet übrigens auf jegliches moralisch-sozialpädagogisches Begleitprogramm. Wir dürfen aus der brillant und bildreich erzählten, faszinierenden und anrührenden Geschichte unsere eigenen Schlüsse ziehen.
Die Handlung beginnt in Kalkutta und verlagert sich dann auf die Andamanen, eine Inselkette im Golf von Bengalen. Bis zur Unabhängigkeit Britisch-Indiens war sie eine britische Strafkolonie für Aufständische, Verbrecher und politische Gefangene. Nach der »Partition of India« (Aufteilung der Ex-Kolonie in das hinduistische Indien und das islamische Pakistan) und ihrem millionenfachen Blutvergießen siedelte die indische Regierung Tausende Hindu-Flüchtlinge aus Ostbengalen auf den fast menschenleeren Inseln an.
Auch die Familie unseres elfjährigen Ich-Erzählers Bellini beschließt 1948, Kalkutta zu verlassen. Sie folgt den Verlockungen, die ein reicher Visionär, Mister Ray (»Rupee«), unter die Leute brachte. Nach nur zwei, drei Tagen auf See würden sie »ein Leben ohne Sorgen« auf einer von zweihundert smaragdgrünen Inseln 1.300 Kilometer südöstlich von Kalkutta erwarten.
Die Männer in Bellinis Familie sind traditionsgemäß Führer von Arbeitselefanten. Dies ist ein altehrwürdiger Beruf, denn so ein »Mahut« lebt sein Leben in engster Verbundenheit mit seinem starken, intelligenten und sensiblen Riesentier, dessen Charakter er durch und durch kennen und respektieren muss, damit es ihm Vertrauen, Gehorsam und schwerste Arbeit schenkt. Von Anfang an steht fest, dass auch Bellini Mahut wird, und er hat bereits eine innige Beziehung zu Dalee, dem Elefanten seiner Familie.
Als es an Bord des Dampfers geht, muss daher auch Dalee mit. Wie seine elf mitreisenden Artgenossen wird er gefesselt und in eine enge Kiste gepfercht. Damit die Tiere die Tortur ertragen, bleiben Bellinis Vater und die anderen Mahuts Tag und Nacht bei ihnen im Bauch des Schiffes, um ständig präsent zu sein, sie aufmerksam zu beobachten, zu füttern, zu pflegen und immer wieder zu beruhigen.
Die Schilderung des Treibens und der Zustände auf dem hoffnungslos überladenen Schraubendampfer ist ein erzählerisches Glanzstück und lässt ein Feuerwerk von Sinneseindrücken explodieren. Auf und unter Deck ist jede Bevölkerungsgruppe des Subkontinents vertreten: »Jäger und Fährtenleser, Tischler und Zimmerer, Topfrührer und Messerwetzer, Reispflanzer und Küstenfischer […], Landlose aus Kerala, Verstoßene aus Ostbengalen, Hungerleider aus Bihar […], Mütter und Väter, Töchter und Söhne […], Säuglinge in verlausten, staubverdreckten Tüchern, manche ohne Namen, ohne Ursprung, fremd, entwurzelt und heimatlos«. In der glühenden Hitze des finsteren Schiffsbauchs halten die »Schwarzen« die lodernden Feuer in den Kesselöfen am Leben. Ihre verbrannten Arme sind von den Werkzeugen ihres höllischen Daseins gezeichnet.
Die Ankunft im versprochenen gelobten Land sorgt für Ernüchterung. Ein paar Inselbewohner, von Narben und schlecht verheilten Wunden entsetzlich entstellt, rudern Mensch und Tier an Land. Sie begreifen nicht, warum man ausgerechnet hierher gereist ist, denn »auf diesen Inseln wirst du nichts weiter finden als Monster, Menschenfresser und Mörder«. Jetzt bestätigt sich für die Neuankömmlinge, was ihnen ein Besatzungsmitglied während der Überfahrt ausgemalt hatte: Ihr Ziel sei Kala Pani (dt. »Schwarzes Wasser«), berüchtigt für sein grausames Gefängnis mitten in der Wildnis.
Statt eines Paradieses finden die Angereisten einen weglosen Dschungel vor, der erst einmal gerodet werden muss, ehe er den Menschen vielleicht eines Tages ermöglicht, dort zu leben. Aber die tausendjährigen Bäume des Regenwaldes sind von Lianen und Bromelien undurchdringlich umrankt, tierische Wachposten wie Blutegel und Tigermücken schützen das Dickicht vor Zudringlingen, so dass sich die Siedler vor schier unmögliche Aufgaben gestellt sehen. Nach Wochen des Schuftens mit der unermüdlichen Hilfe der unverzichtbaren Arbeitselefanten und tatkräftiger Unterstützung durch die Mörder aus dem ehemaligen Foltergefängnis von Port Blair ist eine kleine Lichtung freigeschlagen, auf der nach und nach einfachste Hütten errichtet werden.
Wer ist eigentlich die Hauptperson dieses so poetischen wie gnadenlos realistischen Romans – Bellini, der kleine indische Junge, oder Dalee, sein dickhäutiger Gefährte? Wir lernen die beiden gleich zu Beginn des Buches in ihrer engen Verbundenheit kennen. Bellini ist ein glückliches Kind, weil er tagtäglich entdecken und bestaunen darf, welche Wunder der »Große Graue« bereithält. Im Wasser der Lagune, wo das gewichtige Landtier »sein wahres Element gefunden« hat, schwimmt es wie schwerelos »mit der Anmut eines Rochens«, »königlich wie eine Karettschildkröte«. Derweil lässt sich das Kind mit angehaltenem Atem auf den Grund sinken und beobachtet, was der Riese mit seinen Beinen, den wehenden Ohren, dem Rüssel anstellt.
Doch die neue Heimat ist kein Platz für Idylle. Keiner der mittellosen, gutgläubigen Menschen ahnt auch nur annähernd, was Mister Ray, der goldberingte Menschenfänger von königlicher Erscheinung, mit ihnen vorhat. Das von ihm gegründete Unternehmen soll ihm selbstverständlich Reichtum bescheren, sonst nichts. In einem pompösen Aufzug flaniert der Kaufmann aus dem fernen Kalkutta eines Tages durch die zuvor noch nie besuchte Siedlung, begleitet von einem feinen Ehepaar aus Europa und ihrem umfänglichen Gepäck.
Die Prozession ist eine weitere Gelegenheit für den Autor, uns tief in die sinnlichen Erfahrungen von Bellini und seiner armen Familie mitzunehmen. Die europäische Mistress trägt ein helles Gewand und einen Rüschenschirm, einzig vergleichbar mit einem »Seidenreiher im Prachtkleid … mit Schmuckfedern auf dem Schopf«, und hinter ihnen folgt eine »Karawane der Wunder«: eine Badewanne auf Tigerfüßen, ein Vogelkäfig wie ein Palast, Gemälde und nie gesehene, rätselhafte Objekte wie ein »Tischchen mit Schwungrad und Pedal«. Auch das Aussehen der großen Weißen gibt Anlass zum Staunen und Bewundern, etwa ihre langfingrigen, zarten Hände: »Ihre Innenflächen unterschieden sich kaum von unsern, [aber …] auf dem Handrücken war es, als hätte jemand die Farbe vergessen, so bläulich traten die Gefäße unter der gesprenkelten Haut hervor«. Mister Ray heißt das Paar »Willkommen in Maya Bandar«, und schon bald wird es hier neue Sitten einführen.
Dennis Gastmanns Roman »Dalee« liest sich wie ein Märchen für Erwachsene. Jede Szene ist mit Hingabe, Präzision und sprachlicher Kraft gestaltet, so dass wir in eine fremde Welt eintauchen und unvergessliche Bilder entstehen.
Die Handlung erschließt ein breites Themenspektrum. Zu den Abenteuern der Reise, der mühseligen Ansiedlung auf den Andamanen, der Auseinandersetzung mit Mister Ray und seinen Verwaltern und der interessanten Beziehung zwischen Mensch und Tier tritt eine so originelle wie tragische Entwicklung. Ganz im Gegensatz zum sprichwörtlichen ›Elefantengedächtnis‹ verliert Dalee mit den Jahren sein Erinnerungsvermögen. Da auch sein Augenlicht nachlässt, weiß er seine Aufgaben immer weniger zu erledigen und erkennt zuletzt kaum noch seinen Begleiter. Der treue Helfer wird dadurch zur Gefahr.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2023 aufgenommen.