Die Gefangenen
von Debra Jo Immergut
Ein Gefängnistherapeut erkennt in einer Patientin den Schwarm seiner Jugend. Ihr zu helfen wird sein Herzensanliegen. Auch sie will ihr Leben nicht in Gefangenschaft verbringen.
Wir müssen hier raus
Obwohl Miranda Green erst 32 Jahre alt ist, könnte sie schon jetzt mit einiger Sicherheit voraussagen, wie ihr Leben mit 82 aussehen wird. Denn sie ist wegen Totschlags zu einem halben Jahrhundert Gefängnis verurteilt worden. Um es gleich vorwegzunehmen: Ihre Tat ist nicht das Thema des Romans. Sie wird nur in Erinnerungsrückblicken und ein paar Zeitungsartikeln erwähnt. Vielmehr geht es (zunächst einmal) darum, dass Miranda gar nicht erst so alt wird.
Dass es jemals so kommen würde, hätte niemand vorherzusagen gewagt in der ambitionierten Familie des Kongressabgeordneten Green, wo Miranda mit ihrer drei Jahre älteren Schwester Amy aufgewachsen war. Doch bald zerfällt die heile Welt der Eltern, ohne dass es den Kindern gleich bewusst würde. Als der Abgeordnete um seine Wiederwahl kämpft (und scheitert), hat seine Frau längst einen Geliebten. Die Ehe wird geschieden. Amy, gerade erst sechzehn, stirbt bei einem Unfall mit einem ausgeliehenen Sportcabrio. Miranda, die immer ein braves Kind und eine gute Schülerin gewesen ist, verliert nun den Boden unter den Füßen.
Im Gefängnis will sie all diese Umstände niemandem offenlegen, auch nicht dem neuen Therapeuten Frank Lundquist. Denn sie verfolgt einen eigenen Plan, wie sie ihre horrende Bestrafung (»eine derart obszöne Anzahl von Jahren«) verkürzen kann: durch Selbstmord. Dazu benötigt sie freilich starke Medikamente, und allein um die verordnet zu bekommen, besucht sie die angebotenen Therapiestunden und klagt dort über Ängste, Schlafstörungen und dergleichen.
Anders als Miranda erkennt Frank sein Gegenüber sofort. Das attraktive, sportliche Mädchen war in der Highschool sein heimlicher Schwarm, und jetzt fängt er erst recht Feuer. Anstatt sich zurückzuziehen und die Patientin wegen persönlicher Befangenheit abzugeben, erliegt er seinen aufwallenden Emotionen und der süßen Versuchung, sich für Mirandas Wohlergehen zu engagieren. Zuerst gibt er alles, um ihr das Leben im Gefängnis, wo das brutale Recht des Stärkeren herrscht, zu erleichtern. Das aber genügt ihm mit der Zeit nicht mehr, je mehr er die Distanz zu ihr verliert und sich darüber im Klaren ist, den Kodex für therapeutische Professionalität ohnehin längst hinter sich gelassen zu haben. Sein Ziel ist nun, Miranda aus dem Gefängnis zu befreien und mit ihr eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.
Diese Perspektive verlockt Frank als Ausweg aus seinem bisherigen frustrationsreichen Leben. Ähnlich Miranda ist er das Produkt einer kruden Kindheit. Sein Vater, eine anerkannte Koryphäe der Kinderpsychologie, benutzte seinen Erstgeborenen als erstes Versuchskaninchen für seine Tests. Doch das mustergültige »Baby null« enttäuschte die großen Erwartungen, die in es gesetzt wurden, und wuchs keineswegs zu einem »mustergültigen Mann« heran.
Zwar absolvierte Frank erfolgreich seine Ausbildung und wurde ein passabler Psychologe. Doch nach einem schweren Behandlungsfehler musste er die Gemeinschaftspraxis verlassen. Wie seine Ehe verfiel auch Frank selber, und in seinem psychischen Jammertal helfen ihm auch wohlfeile Therapieweisheiten nicht (»Liebe dich selbst. Vergib dir selbst.«). Als Angestellter der Strafanstalt Milford Basin hat er eine neue Chance, sich beruflich zu bewähren, wenn auch nicht in offener Konkurrenz, sondern in einem geschlossenen Umfeld.
Etwas Sinn in seinem reduzierten Dasein findet Frank darin, dass er sich um seinen jüngeren Bruder Clyde kümmert. Der wurde als Nachzügler verhätschelt und driftete, als er auf eigenen Füßen stehen sollte, ab in die Welt der heroinsüchtigen Junkies und Obdachlosen. Vater, dessen Spezialität Verdrängung ist, beharrt auf seiner Diagnose, dies sei nichts als eine vorübergehende »Phase«, »eine verlängerte Jugend, die Weigerung, erwachsen zu werden«, aber Frank sieht klarer, wie hoffnungslos Clyde dahinvegetiert.
Wir folgen abwechselnd den Perspektiven der beiden Protagonisten – Frank als Ich-Erzähler, Miranda aus der 3. Person. Sie hat zwar eine vage Vermutung, ihr Psychologe sehe jemandem ähnlich, erkennt ihn aber nicht wieder. So kommen die beiden in den Therapiestunden mit diametral entgegengesetzten Interessen zusammen, und das kann schwerlich gut gehen. Trotz dieses Spiels mit verdeckten Karten kommt kein rechtes Knistern auf. Die psychologisch überlagerte Liebesgeschichte ist spannend (Franks Befreiungsplan setzt immerhin das Leben seiner angehimmelten Patientin und seine eigene Karriere aufs Spiel), aber Mirandas Schicksal geht uns dank der detailreich beschriebenen Haftsituation (Isolation, Schikanen der Wärter, Hackordnung der Insassen, Drogenhandel) verstörender unter die Haut als das unglückliche Leben eines an Minderwertigkeitskomplexen reichen Losers, der seinen Emotionen ziemlich blind erlegen ist. Dass ein studierter und einigermaßen erfahrener Profi wie er die Strategie einer Patientin nicht durchschaut, sich auf derartige Nähe einlässt, dass er manipuliert werden kann, ist denn doch arg unprofessionell und unglaubwürdig und passt vielleicht besser ins Genre Arztroman als zu einem Psychothriller. Darf ein so bemitleidenswert Eingelullter auf Besseres hoffen als ein böses Erwachen?
Debra Jo Immergut arbeitete in den Neunzigerjahren als Journalistin für das Wall Street Journal in Berlin und unterrichtete danach in vielen Strafanstalten Creative Writing. Was sie in all den Jahren über das Leben der Inhaftierten erfuhr, ist in ihren unterhaltsamen Debütroman »The Captives« eingeflossen. Das bewährte Übersetzerpaar Ulrike Wasel und Klaus Timmermann hat ihn jetzt ins Deutsche übertragen.