Rezension zu »Die Gefangenen« von Debra Jo Immergut

Die Gefangenen

von


Ein Gefängnistherapeut erkennt in einer Patientin den Schwarm seiner Jugend. Ihr zu helfen wird sein Herzensanliegen. Auch sie will ihr Leben nicht in Gefangenschaft verbringen.
Psychothriller · Penguin · · 304 S. · ISBN 9783328600190
Sprache: de · Herkunft: us

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Wir müssen hier raus

Rezension vom 21.08.2020 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Obwohl Miranda Green erst 32 Jahre alt ist, könnte sie schon jetzt mit einiger Sicher­heit voraus­sagen, wie ihr Leben mit 82 aussehen wird. Denn sie ist wegen Tot­schlags zu einem halben Jahr­hundert Gefängnis verur­teilt worden. Um es gleich vorweg­zuneh­men: Ihre Tat ist nicht das Thema des Romans. Sie wird nur in Erinnerungs­rück­blicken und ein paar Zeitungs­artikeln erwähnt. Vielmehr geht es (zunächst einmal) darum, dass Miranda gar nicht erst so alt wird.

Dass es jemals so kommen würde, hätte niemand vorherzu­sagen gewagt in der ambitio­nierten Familie des Kongress­abge­ordneten Green, wo Miranda mit ihrer drei Jahre älteren Schwester Amy aufge­wachsen war. Doch bald zerfällt die heile Welt der Eltern, ohne dass es den Kindern gleich bewusst würde. Als der Abgeord­nete um seine Wieder­wahl kämpft (und scheitert), hat seine Frau längst einen Geliebten. Die Ehe wird geschie­den. Amy, gerade erst sechzehn, stirbt bei einem Unfall mit einem ausge­liehenen Sport­cabrio. Miranda, die immer ein braves Kind und eine gute Schülerin gewesen ist, verliert nun den Boden unter den Füßen.

Im Gefängnis will sie all diese Umstände niemandem offen­legen, auch nicht dem neuen Thera­peuten Frank Lundquist. Denn sie verfolgt einen eigenen Plan, wie sie ihre horrende Bestra­fung (»eine derart obszöne Anzahl von Jahren«) verkürzen kann: durch Selbst­mord. Dazu benötigt sie freilich starke Medika­mente, und allein um die verordnet zu bekommen, besucht sie die ange­botenen Therapie­stunden und klagt dort über Ängste, Schlaf­störungen und der­gleichen.

Anders als Miranda erkennt Frank sein Gegenüber sofort. Das attrak­tive, sport­liche Mädchen war in der High­school sein heim­licher Schwarm, und jetzt fängt er erst recht Feuer. Anstatt sich zurückzu­ziehen und die Patientin wegen persön­licher Befangen­heit abzugeben, erliegt er seinen aufwal­lenden Emotionen und der süßen Versu­chung, sich für Mirandas Wohler­gehen zu enga­gieren. Zuerst gibt er alles, um ihr das Leben im Gefängnis, wo das brutale Recht des Stärkeren herrscht, zu erleich­tern. Das aber genügt ihm mit der Zeit nicht mehr, je mehr er die Distanz zu ihr verliert und sich darüber im Klaren ist, den Kodex für therapeu­tische Professio­nalität ohnehin längst hinter sich gelassen zu haben. Sein Ziel ist nun, Miranda aus dem Gefängnis zu befreien und mit ihr eine gemein­same Zukunft aufzu­bauen.

Diese Perspektive verlockt Frank als Ausweg aus seinem bishe­rigen frustra­tions­reichen Leben. Ähnlich Miranda ist er das Produkt einer kruden Kindheit. Sein Vater, eine aner­kannte Koryphäe der Kinder­psycho­logie, benutzte seinen Erstge­borenen als erstes Versuchs­kaninchen für seine Tests. Doch das muster­gültige »Baby null« ent­täuschte die großen Erwar­tungen, die in es gesetzt wurden, und wuchs keines­wegs zu einem »muster­gültigen Mann« heran.

Zwar absolvierte Frank erfolgreich seine Ausbildung und wurde ein passabler Psycho­loge. Doch nach einem schweren Behand­lungs­fehler musste er die Gemein­schafts­praxis verlassen. Wie seine Ehe verfiel auch Frank selber, und in seinem psychi­schen Jammer­tal helfen ihm auch wohlfeile Therapie­weis­heiten nicht (»Liebe dich selbst. Vergib dir selbst.«). Als Ange­stellter der Straf­anstalt Milford Basin hat er eine neue Chance, sich beruflich zu bewähren, wenn auch nicht in offener Konkur­renz, sondern in einem geschlos­senen Umfeld.

Etwas Sinn in seinem reduzierten Dasein findet Frank darin, dass er sich um seinen jüngeren Bruder Clyde kümmert. Der wurde als Nach­zügler verhät­schelt und driftete, als er auf eigenen Füßen stehen sollte, ab in die Welt der heroin­süchti­gen Junkies und Obdach­losen. Vater, dessen Spezia­lität Verdrän­gung ist, beharrt auf seiner Diagnose, dies sei nichts als eine vorüber­gehende »Phase«, »eine verlän­gerte Jugend, die Weigerung, erwachsen zu werden«, aber Frank sieht klarer, wie hoff­nungs­los Clyde dahin­vegetiert.

Wir folgen abwechselnd den Perspektiven der beiden Protago­nisten – Frank als Ich-Erzähler, Miranda aus der 3. Person. Sie hat zwar eine vage Vermutung, ihr Psycho­loge sehe jemandem ähnlich, erkennt ihn aber nicht wieder. So kommen die beiden in den Therapie­stunden mit diametral entgegen­gesetzten Interes­sen zusammen, und das kann schwer­lich gut gehen. Trotz dieses Spiels mit ver­deckten Karten kommt kein rechtes Knistern auf. Die psycho­logisch über­lagerte Liebesge­schichte ist spannend (Franks Befreiungs­plan setzt immerhin das Leben seiner angehim­melten Patientin und seine eigene Karriere aufs Spiel), aber Mirandas Schicksal geht uns dank der detail­reich beschrie­benen Haft­situation (Isolation, Schikanen der Wärter, Hack­ordnung der Insassen, Drogen­handel) verstö­render unter die Haut als das unglück­liche Leben eines an Minder­wertig­keitskom­plexen reichen Losers, der seinen Emotionen ziemlich blind erlegen ist. Dass ein stu­dierter und einiger­maßen erfah­rener Profi wie er die Strategie einer Patientin nicht durch­schaut, sich auf derartige Nähe einlässt, dass er mani­puliert werden kann, ist denn doch arg unprofes­sionell und unglaub­würdig und passt viel­leicht besser ins Genre Arzt­roman als zu einem Psycho­thriller. Darf ein so bemit­leidens­wert Einge­lullter auf Besseres hoffen als ein böses Erwachen?

Debra Jo Immergut arbeitete in den Neunziger­jahren als Journa­listin für das Wall Street Journal in Berlin und unter­richtete danach in vielen Strafan­stalten Creative Writing. Was sie in all den Jahren über das Leben der Inhaf­tierten erfuhr, ist in ihren unter­halt­samen Debüt­roman »The Captives« Debra Jo Immergut: »The Captives« bei Amazon einge­flossen. Das bewährte Über­setzer­paar Ulrike Wasel und Klaus Timmer­mann hat ihn jetzt ins Deutsche übertragen.


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