Italia – zur Einheit geboren, getragen, gezwungen?
Gott hat den Italienern »das am klarsten umrissene Vaterland Europas gegeben«, begrenzt durch die Alpen und das Meer, glaubte Giuseppe Mazzini, einer der Wegbereiter des risorgimento, des »Wiedererstehens« der italienischen Nationalstaatlichkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und ist das Land nicht weiter gesegnet durch seine privilegierte geographische Lage mitten im Mittelmeer?
Als Italien im Jahr 2011 den 150. Geburtstag der Nation feierte, veröffentlichte David Gilmour, einer der bedeutendsten britischen Autoren historischer und biografischer Werke, sein großartiges Buch »The Pursuit of Italy: A History of a Land, Its Regions, and Their Peoples« , das nun in der rundum gelungenen Übersetzung von Sonja Schuhmacher und Rita Seuß bei Klett-Cotta erschienen ist (vollständiger Titel: »Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart«)..
Doch Gilmour mag nicht einstimmen in den Chor der offiziellen Jubelfeiern, noch ist sein Buch ein weiterer Beitrag zur traditionellen Geschichtsschreibung, die, begleitet von zigtausend Straßennamen, Statuen und Gedenktafeln im ganzen Land, die selbstlosen Großtaten der Heroen der Einheit verherrlicht: Giuseppe Garibaldi, Camillo Cavour, Giuseppe Mazzini, Giuseppe Verdi, Vittorio Emanuele II …
Der Autor konstatiert vielmehr, dass ein italienisches Nationalgefühl sich selbst nach eineinhalb Jahrhunderten noch nicht herausgebildet habe. Damit trifft er einen Wesenskern der Italiener, die sich vielfach schwer damit tun, die Politik und Gesetze einer zentralen Staatsregierung zu respektieren, während die meisten gleichzeitig glühende Liebhaber ihrer jeweiligen Region und stolze Lobredner ihres Städtchens sind, dessen vino und formaggio selbstverständlich die besten des Landes sind (campanilismo). In der Tat finden wir die charakteristischen Stärken des Landes in der Vielfalt seiner Regionen. In ihrer Eigenschaft als »Italiener« aber lassen sich seine Bürger allenfalls begeistern, wenn Gli Azzurri (die Mannen der Fußballnationalmannschaft) in die Arena stürmen.
Im Zuge von Gilmours Darstellung erkennen wir, dass es ein nationales Bewusstsein der italianità wohl nie gegeben hat, wie oft sie im Laufe der Jahrhunderte auch beschworen sein mochte (nicht zuletzt im Begriff des risorgimento). Wo es reklamiert wurde, steckten zumeist ganz andere Interessen dahinter.
In seiner »chronologischen Skizze«, wie der Autor bescheiden formuliert, verfolgt er einen ebenso faszinierenden wie plausiblen Ansatz: »Herkömmliche Darstellungen der italienischen Geschichte waren aus einer zentralistischen Perspektive geschrieben, als wäre die Einigung Italiens unausweichlich gewesen. Mich dagegen interessierten die zentrifugalen Tendenzen der Halbinsel.« Seine »Geschichte der Zerrissenheit Italiens« kommt zu ungewohnten, aber stimmigen und überzeugend belegten Interpretationen wichtiger historischer Ereignisse, insbesondere des risorgimento, das er als geschickten Expansionscoup nachweist. Cavour und das Königreich Piemont seien keineswegs gebeten worden, den Ehrenvorsitz über die neue italienische Nation zu übernehmen, nachdem die Regionen sich freiwillig und begeistert vereinigt hätten, sondern der Graf und sein Monarch hätten ihre machtpolitischen Interessen einschließlich der konservativen piemontesischen Rechts- und Wirtschaftsordnung bis hinunter nach Sizilien durchgesetzt und dadurch die vielfach überlegenen, aufgeklärteren, in jedem Fall aber den Gegebenheiten viel besser angepassten Systeme der süditalienischen Regionen verdrängt. Die Folge waren Wettbewerbsnachteile und ein Niedergang, unter dem Süditalien bis heute leidet.
Wenn Italien also nicht gegen seine Natur geeint worden wäre, hätte es womöglich eine Staatlichkeit gefunden, die seiner Vielfalt entspricht. Dann, so stellt sich Gilmour vor, »wäre [im heutigen Europa] sicher auch Platz für eine blühende Toskana, die im 18. Jahrhundert der vielleicht zivilisierteste Staat Europas war«, oder für »ein prosperierendes Venedig« (dem Gilmour ein besonders engagiertes Kapitel voller Bewunderung für seine Staatsform und Regierungsgeschicke widmet). Selbst einem eigenstaatlichen Süden mag man in diesem Denkmodell eine Chance einräumen. In jedem Fall aber hätte ein föderales Konzept der weiteren Entwicklung aller Landesteile besser getan als der Zentralismus, den die Gründerväter damals aus durchsichtigen Motiven vorantrieben.
Im Sinne seiner Kernthese stellt Gilmour seinem Durchgang durch 2500 Jahre italienischer (und europäischer) Geschichte ein Kapitel »Vielgestaltiges Italien« voran, welches auch guten Kennern des Landes Überraschendes zu Geographie sowie ethnischer und sprachlicher Entwicklung bieten wird – ein frappierendes Feuerwerk an Fakten vom Holzverbrauch im Mittelalter bis zur Ernährungsweise heutiger Italiener (mehr Fleisch/weniger Fisch als der Durchschnittseuropäer – hätten Sie’s gedacht?), dem Vergleich der Inselländer England und Sizilien, der Gebirgszüge Alpen und Apennin … Am Ende ist klar: Schon die geophysischen Besonderheiten des »Stiefels« können gar kein Nationalbewusstsein aufkommen lassen, behindern das Entstehen eines Nationalstaats, bergen eine Fülle von Handicaps für wirtschaftliches Gedeihen.
Die Hauptteile sind gemischt chronologisch und nach Großthemen strukturiert: »Imperiales Italien« über das römische Reich (das Kohärenz schafft, aber nicht nationalistische Züge entwickelt) und die nachfolgenden Herrscher aus Byzanz und Deutschland (deren räumliche Abwesenheit später die Autonomie der aufstrebenden bürgerlichen Städte fördert) – »Die Macht der Städte« (die mit vordemokratischen Regierungsformen groß werden, ehe sie an deren Schwächen und an denen der Herrschenden untergehen) – Jahrhunderte der Fremdherrschaften – die Revolutionen und der Weg zur Einheit. Für ein Zwischenkapitel wechselt der Fokus zur Betrachtung einzelner Personen: Römer, Feldherren, Politiker, Revolutionäre. Den Abschluss bilden die Kapitel über die Jahrzehnte des Faschismus, die Phase des Kalten Krieges und schließlich das moderne Italien.
Dies ist also in erster Linie ein solides Geschichtsbuch. Doch es ist auch ein Lesebuch, will heißen: eine exzellent formulierte (und durchweg überzeugend übersetzte) Erzählung, voller lebendiger Episoden (»das Buch eines Zuhörers«), anschaulicher Beschreibungen, faszinierender Gedankengänge, die zu genießen ein intellektuelles und ästhetisches Vergnügen ist.
Was dieses Buch nicht ist: ein Sehnsuchtsbuch (wie das Cover der deutschen Ausgabe es vielleicht suggeriert; das Original zeigt viel passender eine jubelnde Volksmenge auf der piazza vor einem palazzo); ein Reisebuch; ein Kunst- und Kulturführer; ein »Porträt« der Italiener (wie etwa Beppe Severgninis »Überleben in Italien – ohne verheiratet, überfahren oder verhaftet zu werden« , original »La testa degli Italiani« ). Gilmours Buch liefert vielmehr – um im Bild von Severgninis Originaltitel zu bleiben – den historischen Unterbau von zwei Jahrtausenden, in denen jener »Kopf der Italiener« sein Innenleben entwickeln konnte.
Sir David Gilmour (Jahrgang 1952) ist seit Jahrzehnten als Journalist auf Reisen, hat in sämtlichen Regionen Italiens ebenso wie in Spanien und Palästina gelebt. Sein beeindruckendes Wissen hat er nicht nur akademischen Studien zu verdanken, sondern auch aus Gesprächen mit ungezählten bedeutenden Persönlichkeiten gewonnen. Dementsprechend geweitet ist sein Horizont, und sein Buch ist von tiefstem Verständnis für die Menschen und ihr Wesen durchdrungen.
Vor allem im Einleitungsteil schimmert seine persönliche Zuneigung durch, und des Öfteren spielt er mit den Träumen, die wir Nordlichter nur zu gerne hegen: »unter einer Pergola in der Toskana die Glühwürmchen zu beobachten, Chianti zu trinken und Olivenöl aus Lucca über ihren Rukolasalat zu träufeln … Gutes im Überfluss …: funghi porcini und bistecca fiorentina, Feigen, Hülsenfrüchte und gegrilltes Gemüse …«
Neben dem Mythos von der italienischen Nation und manch liebgewordener Idylle räumt Gilmour mit weiteren etablierten Vereinfachungen auf – über Stauferkaiser Friedrich II. und seine Fähigkeiten (»aufgebauscht«), Macchiavelli (ein »waschechter Republikaner«), Vasari (»armseliger Maler und pedantischer Architekt«), Napoleon Bonaparte (»stürzte das Land ins Chaos«), Venedigs grausame Tyrannenherrschaft (reine ausländische Propaganda, z.B. Napoleons), die Expedition des »Zuges der Tausend« (»ein Akt der Piraterie«). Dass die Bevölkerung stets einen abgrundtiefen Hass gegen die ausländischen Besatzermächte (v.a. Österreich) gehabt habe, entlarvt Gilmour als Mär; sie sei im Gegenteil oft so gut regiert worden, dass sie gar keinen Grund sah, einen Herrscherwechsel herbeizuführen oder auch nur zu wünschen. Deshalb fanden die glorifizierten »Revolutionäre« (wie Mazzini, Garibaldi u.a.) kaum Rückhalt bei ihnen. Und auch dafür, dass Verdis erste »Risorgimento-Opern« (»Nabucco«, »I Lombardi …«, »Attila« – alles höchst unzeitgemäße Sujets) das italienische Publikum mit Gefühlen nationaler Erhebung geflutet und von den Stühlen gerissen hätten, kann Gilmour keine Belege finden.
Die Klett-Cotta-Ausgabe bietet acht Seiten mit 39 Abbildungen im Inneren, 24 Seiten Anmerkungen und Bibliographie, 3 Karten des politischen Zustands des Landes (um 1490, nach 1815, heute) und 20 Seiten Register. All das deckt den Bedarf an Wissenschaftlichkeit; für den Wunsch nach unterhaltsamer und informativer Anschaulichkeit hätte ich mir allerdings viel mehr Bilder und Skizzen gewünscht.