Eilis, wo liegt deine Zukunft?
Eilis Lacey und ihre ältere Schwester Rose leben mit ihrer Mutter in Enniscorthy, einem kleinen Kaff in Irland. Da es keine Arbeit gibt, sind die drei Brüder vor ein paar Jahren nach Birmingham gezogen. Schwester Rose ist etwas etepetete. Gern betrachtet sie sich im Spiegel, achtet dabei auf ihre Kleidung, Haartracht und Feinabstimmung des geschminkten Gesichtes. Mit ihrem Gehalt als Sekretärin hält sie die kleine Familie über Wasser. Für Eilis gibt es keine Arbeit. Nur Miss Kelly, die knickerige, bösartige Besitzerin des Lebensmittelladens, bittet sie, dort auszuhelfen – aber nur an Sonntagen, wenn kein anderer Laden im Ort geöffnet ist. Miss Kelly hat erkannt, dass Eilis ein Rechengenie ist: Alle Produkte und deren Preise hat sie auswendig gelernt, und die Abrechnungen bewältigt sie schnell. Dennoch hält Miss Kelly sie mit biestiger Miene immer im Blick.
Eines Tages kommt Father Flood aus Amerika auf Heimatbesuch. Rose, die im Golfclub spielt, lernt ihn kennen und lädt ihn zum Tee bei den Laceys. Neugierig hängen die Geschwister an seinen Lippen und lauschen seinen Erzählungen aus Brooklyn, wo er seine Pfarre habe. Es gebe jede Menge Arbeit, und Iren seien im Gegensatz zu den eingewanderten Italienern besonders beliebt, erzählt er. Bei seinem Abschied verspricht er, sich für Eilis umzuhören; er würde ihre Überfahrt bezahlen, einen Arbeitsplatz, eine Bleibe suchen und immer eine schützende Hand über sie halten. Nach anfänglichen Ängsten, besonders bei Eilis' Mutter, beantragt sie alle notwendigen Formulare zur Einreise nach Amerika.
Die Schiffspassage einschließlich einem Sturm mit gigantischem Wellengang gestaltet sich zu einem Martyrium für Eilis, denn wie nahezu alle Passagiere leidet sie unter den Begleiterscheinungen ihrer Seekrankheit. In Brooklyn wird sie von Father Flood abgeholt. Er bringt sie bei Mrs Kehoe unter, die in ihrem Haus mehrere Zimmer an alleinstehende Damen vermietet und als Hausdrachen über sie wacht. Wer die strenge Hausordnung nicht beachtet, muss sich sofort nach einer anderen Bleibe umsehen. Die nächsten beiden Jahre wird Eilis im Kaufhaus Bartocci hinter der Ladentheke stehen.
Im weiteren Verlauf der Handlung wird Eilis einen netten Mann kennen lernen, später wegen eines unvorhersehbaren Zwischenfalls nach Enniscorthy zurückfahren. Wie wird ihr Leben weitergehen? Kehrt sie nach Brooklyn zurück oder bleibt sie in Irland, wo sie sich im Freundeskreis schnell wieder eingelebt hat?
Der Autor Colm Tóibín hat einen wunderschönen, unaufgeregten Roman geschrieben. Seine Protagonistin Eilis ist ein Mensch mit einem immer wieder überzeugenden positiven Charakter. Sie bemüht sich, es allen recht zu machen, eckt nicht an, und selbst ihre Hauswirtin Mrs Kehoe ist ihr gegenüber die Güte in Person. Jederzeit ist Eilis bereit, im Kaufhaus Mehrarbeit zu leisten. Auch Father Flood unterstützt sie jedes Jahr tatkräftig, wenn er sein Weihnachtsfest für 200 Obdachlose und in Not geratene Menschen ausrichtet. In Abendkursen bildet sie sich fort und erreicht ihren Abschluss als Buchhalterin. Sie macht sich viele Gedanken um ihre Zukunft: heiraten, Kinder bekommen, weiter arbeiten usw. Aber eigentlich verläuft ihr Leben in ruhigem Fahrwasser.
Mancher Leser mag sagen, das sei aber ein langweiliger Roman. Dem widerspreche ich heftig. Erstens empfinde ich es als Wohltat, mal wieder ein Buch gelesen zu haben, in dem weder gemordet noch gefoltert wurde; in dem Menschen weder be- noch ausgenutzt wurden; in dem weder politische noch soziale Probleme im Mittelpunkt standen; welches nicht so abgefasst ist, dass es nur mit höchster Konzentration verstanden werden kann.
"Brooklyn" ist ein Lesegenuss. Der Autor nimmt sich für alles Zeit; anschaulich und ausführlich beschreibt er mit wohl gewählten Worten Schauplätze und Situationen, und mit ganz zarten Tönen erweckt er seine Figuren zum Leben.
Wie schön ist es, sich zum Beispiel vorzustellen, man sei an einem Samstag im Krämerladen von Enniscorthy: Man fragt sich, ob man zur bevorzugten Kundschaft gehören würde, für die Miss Kelly tatsächlich Tomaten aus ihrem Hinterraum holt, oder ob man mit einem altbackenen Brot abgefertigt würde. Ein schönes Stück Prosa!
Das Cover passt perfekt zum Roman. Hier steht eine junge Dame nebst Herrn auf einem Schiffsdeck. Beide schauen zurück, das Schiff fährt nach vorn, die Zukunft ist ungewiss.