Des Wunderkindes rätselhafte Obsessionen
Clemens J. Setz, das "früh berufene Genie", der Wunderknabe der zeitgenössischen Literatur, hat mit seinem Band achtzehn kleiner Erzählungen den Leipziger Buchpreis in der Kategorie Belletristik gewonnen. Mit Spannung, Erwartung und Vorfreude habe ich dieses Buch gelesen – und (ich sag es gleich vorweg) fand mich enttäuscht.
Ja, der Mann ist gebildet, kann sehr gut mit Sprache umgehen, souverän mit Bildern, Vorbildern, Motiven, Bezügen, Konzepten, Stilen jonglieren und originelle, auch witzige plot-Ideen entwickeln. Diese Vorzüge stellen Literaturkritiker denn auch heraus, wenn sie Setz auf sein Podest hieven.
"Da möchte man ... am liebsten das eigene Knie küssen vor Verzückung", wird die Süddeutsche Zeitung auf der Cover-Rückseite zitiert. Derlei poetische Verzückung kam bei mir nie auf. Im Gegenteil: Die Erzählung "Die Blitzableiterin oder Éducation Sentimentale" (nur mal als Beispiel) hat mich zutiefst beschämt. Nach 23 Jahren lassen sich Felix und Sarah scheiden. Ihre Ehe war die Hölle, doch mit dem Tag der juristischen Trennung beginnt ihr wunderbares Leben. (Die Ehe als repressive Anstalt, jetzt sind die Fesseln gesprengt ... altbekannte Trivia.) Endlich können sie, befreit von allen Hemmnissen, ihre tiefsten Neigungen ausleben. Und welche sind das? Gemeinsam vergewaltigen sie eine Prostituierte, beköstigen Gäste mit einem Menü, dessen Salat-Dressing ein Mix ihrer Körpersäfte ist, usw. usw. Ah ja: Wahrscheinlich ist das die Kompensation der jahrzehntelangen Triebunterdrückung unter der Knute des bürgerlichen Ehebegriffs, ganz nach Freud-Jünger Wilhelm Reichs Theorien aus den 1930er Jahren: längst ausgereizt, abgegriffen, überholt und zweifelhaft ... Oder will uns der Dichter damit (jetzt mal ganz individualistisch betrachtet) sagen, dass in uns allen im Grunde perverts stecken? Was auch immer: Keine der beiden Theorien überzeugt mich.
Vielmehr stellt sich mir die Frage, was einen jungen Schriftsteller (Setz ist doch erst dreißig ...) dazu treibt, ausgerechnet in dieser Dimension sein Profil zu schärfen. Wie langweilig, wo es doch dort schon lange keine Tabus mehr gibt, wo doch jedes Kind beim Surf im Internet alles in HD auf den screen geliefert bekommt, was sich 99% der Menschheit bis vor kurzem kaum in die Phantasie schlich ...
Er wird doch nicht etwa die Zurschaustellung von Besudelung, Brutalität, Erniedrigung, Perversionen, sexuellen Exzessen für literarische Leistung halten? Naja, etliche Literaturkritiker finden gerade das faszinierend ... Tut mir Leid: Ich finde das einfach nur abstoßend, unmotiviert und vor allem zum Gähnen langweilig.
Wenn ich schon die Provokation durch Extremisierung eher öde denn revolutionär fand – vielleicht ist das Büchlein ja wenigstens unterhaltsam?
Mit Einschränkungen. Es gibt sie natürlich, die famosen, fantastischen Eingebungen des Clemens J. Setz. "Das Riesenrad" zum Beispiel ist eine Geschichte über eine einsame Frau, die sich von der Welt abkapselt. Die Rad-Metapher lässt an das uralte Rad der Fortuna denken. Da wohnt Monika in Waggon 21 zur Miete. Während sie auf den Techniker wartet, sieht sie fern. Ganz nett. Doch selbst in dieser eher harmlosen Erzählung muss sich Marianne mehrfach selbst befriedigen. Offenkundig sieht Setz die Sexualität als die Nabe des Riesenrades, welches unser Leben ist (Freud, Reich lassen schon wieder grüßen ...) ; für mich sind die expliziten Sex-Szenen aber trotzdem literarisch schlichtweg überflüssige Bauteile im Konstrukt.
Ein netter, selbstironischer Gag über den Literaturbetrieb ist "Das Herzstück der Sammlung": Der Autor selbst porträtiert sich als Greis in einem Gitterbett, auf einer alten Matratze mit Füllfeder in der Hand dahinvegetierend, der Raum angefüllt mit gebrochenen Regenschirmen, ein Zimmerbrunnen plätschert vor sich hin. Eine letzte Besucherin besichtigt das Literaturarchiv, das demnächst in die Hände eines privaten Sammlers weitergegeben wird, und darf den verschlossenen Raum, aus dem menschliche Geräusche und unangenehme Gerüche zu ihr dringen, betreten.
Etliche andere Erzählungen wirken arg gesucht, konstruiert, artifiziell, zum Beispiel "Kleine braune Tiere" über den genialen Computerspielprogrammierer Marc David Regan. Den Mix aus wissenschaftlichem Aufsatz, Biographie, Tagebuch und anderen Formen fand ich ermüdend; ich habe mich nicht bis zum letzten Level durchgekämpft.
Wer virtuose Sprachkunst in bisweilen skurrilem oder rätselhaftem Kontext sucht und sich nicht an seitenlang ausgebreiteten ekligen Details stört, mag an diesem Buch Vergnügen finden. Ich nicht.