Liebe ist gewaltig
von Claudia Schumacher
Ein tiefer, verstörender Einblick in die kaum glaublichen Geheimnisse einer äußerlich ehrenwerten Familie.
Monster hinter der Fassade
Das Thema dieses Romans ist in unserer Gesellschaft durchaus präsent. Vor allem einige Fernsehfilme haben Aufsehen erregt. In der Realität wird das Problem innerfamiliärer Gewalt allerdings immer erst dann wahrgenommen, wenn es schon zu spät ist. Zu geschickt tarnen die Betroffenen – Täter wie Opfer – die konkreten Vorfälle oft über Jahre. Claudia Schumacher leistet mit ihrem Debütroman Bemerkenswertes, indem sie das Innenleben einer solchen Familie einfühlsam und realistisch gestaltet.
Die Wahl ihrer Protagonistenfamilie mag überraschen. Sie wohnt im feinen (fiktiven) Stuttgarter Vorort Ederfingen. Kurt Ehre und seine Frau (der Name ist mit allzu plakativem Sarkasmus gesetzt) sind Juristen. Ihr Freundeskreis, durchweg aus dem selben sozialen Milieu, schätzt die beiden als untadelige, erfolgreiche Mitbürger und sympathische Familienmenschen. Sie haben vier Kinder großgezogen – die Älteste arbeitet in einem Hotel in Köln, die Jüngste ist siebzehn. Dass diese angesehene Vorzeigefamilie ein Tabu hütet, von dem keine Spur nach außen dringen darf, ahnt niemand. Würde bekannt, dass Kurt Ehre seine Frau und seine Kinder tyrannisiert und prügelt, wäre sein Ruf schlagartig und vollständig zerstört, er würde geächtet.
Aber ist solches Übergriffverhalten nicht eher in prekäreren Verhältnissen zu vermuten, bei Menschen, die sich nicht im Griff haben, die materielle Not unter Druck setzt, denen die Bildung fehlt, um ihr Verhalten zu relativieren? Claudia Schumacher legt offen, dass diese Annahme auf fatale Weise trügt. Vielmehr kennen und beherrschen Menschen aus sogenannten »besseren Kreisen« die Mechanismen, wie man die Öffentlichkeit täuschen kann, wesentlich besser und setzen sie geschickter ein, so dass aggressive Akte hier noch länger unentdeckt bleiben und größere Schäden anrichten können.
Schonungslos schildert die Autorin das Leben im Hause Ehre, wo der selbstverliebte Vater ein brutales Regiment führt. Die Kinder und ihre Mutter müssen Top-Leistungen bringen, um ein wenig Zuneigung von ihm zu erheischen, andernfalls drohen schmerzvolle Maßnahmen. Alex, die Zweitälteste, konnte sich früh dem Elternhaus entziehen. Bruno, der Dritte, bezeichnet sie scherzhaft als »Kuckuckskind« und hält sie für so unauffällig, dass die Eltern sie am ehesten von ihren vier Kindern einmal an einer Raststätte vergessen könnten. Jetzt hat sie sich Hunderte Kilometer abgesetzt und »kommt nie nach Hause«.
Jahrelang ließen sich Bruno und Max, der Erstgeborene, ohne Gegenwehr vom Vater verprügeln. Wie so ein »normaler Abend daheim bei den Ehres, der beliebten Familie mit den netten Kindern und der charmanten Mutter« eskalierte, das kann man kaum glauben, so unvereinbar klaffen Schein und Sein auseinander. »Bruno winselte vor Schmerz und vor Demütigung … Papa, hör auf, Papa, ich wollte das nicht, Papa, Papa, bitte, bitte. … Auge geschwollen, Blut am Mund. Papa kickte ihm brüllend gegen den Kopf. Mit Schuhen, die er sich extra dafür angezogen hatte. Ich stand nur da und heulte … War wie zersplittert, in tausend Teile.« Dann wird die Jüngste, die siebzehnjährige Juli Kurts Opfer. Er behauptet, sie habe die Prügel wegen ihrer »inneren Verdorbenheit« verdient, und als Resultat eines kaum nachvollziehbaren psychologischen Prozesses übernehmen alle diese abwegige Logik. Juli verfolgen die Traumata Zeit ihres Lebens, ebenso wie die Narben an ihrem Körper. Einen Teil der Verletzungen hat sie sich selbst zugefügt.
Vielleicht die rätselhafteste Rolle spielt die Mutter der gequälten Jugendlichen. Das Spezialgebiet der Familienanwältin ist das Sorgerecht, und meistens vertritt sie Väter. Zu Hause aber ist auch sie nur unterdrücktes Opfer männlicher Gewaltausbrüche. Deren Spuren kaschiert sie mit hübschen Rollkragenpullovern. In ihrer machtlosen Abhängigkeit vom Wohlwollen des autokratisch herrschenden Ehemannes nimmt sie das familiäre Elend als nicht veränderbar hin und wird damit zur Mittäterin und »Tatortreinigerin«. Auch der jüngere Bruder des Familienvaters, ein Mediziner, wirkt mit bei der Vertuschung und Konsolidierung der unerträglichen Verhältnisse. Seiner Verantwortung für die leidgeplagte Nichte meint er dadurch gerecht zu werden, dass er sie für schulische Fehlstunden krank schreibt und ihr Schmerzmittel und Psychopharmaka verordnet.
Der Roman setzt an Julis psychischem Tiefpunkt ein. »Seelisch zerschmettert« ist sie in einer Klinik (einem »Rehaloch«) untergebracht, wo sie zu sich selbst finden soll. Von ihren Selbstmordgedanken darf niemand erfahren. Aus der Ich-Perspektive erzählt sie in einem sehr modernen Sprachstil und überwiegend im Präsens aus drei Lebensabschnitten (2007, 2014 und 2016). Die Autorin zielt darauf ab, beim Leser schockierende, lange nachwirkende Bilder einer jungen Frau hervorzurufen, die psychisch am Boden zerstört ist, und sie setzt zu diesem Zweck auf drastische Beschreibungen, die manchmal heftig aufstoßen und die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten (wie ja auch die Gegebenheiten in der Familie).
Im zweiten Teil erzählt Juli, wie sie nach der Reha versucht, der Familie zu entfliehen. Was für einen Außenstehenden als simpler Akt erscheinen mag, ist für die Betroffene auf emotionaler Ebene eine komplizierte Sache, denn irgendwie liebt sie die Eltern, schämt sich, die Tochter einer solch verkorksten Familie zu sein und sucht die Schuld dafür bei sich.
Am Ende gelingt es ihr aber, nach Berlin zu ziehen und eine sehr erfolgreiche Existenz aufzubauen. Sie finanziert ihren Lebensunterhalt durch Internetspiele und reüssiert als Profi-Gamerin auf internationalem Niveau. In ihrem Studienfach Mathematik strebt sie dank ihrer außerordentlichen Begabung eine Promotion an. Als sie schließlich eine Liebesbeziehung zu einer jungen Frau findet, scheint ihr so unglücklich begonnener Lebensweg doch noch in normale Bahnen zu münden.
Mit dem dritten Teil ändert sich die Erzählsituation. Die Perspektive wechselt zur 3. Person, die Erzählzeit ins Präteritum, und aus »Juli« ist jetzt »Julia« geworden, die mit Ehemann am Zürichsee residiert. Für diese Ehe hat sie alles aufgegeben, was ihr Glück versprach, und nahm stattdessen die Hausfrauenrolle in ihrer traditionellsten Form an. Was bekommt sie dafür? Man ahnt schon das Schema: Keine Liebe, sondern Gewalt und Unterdrückung. Ihr Hausherr bekennt unverhohlene Sympathie zu ihrem Vater und entwickelt sich zu dessen Abbild.
Das Thema dieses Romans ist zu ernst, um damit zu spielen. Das tut allerdings schon der Titel, dessen Adjektiv allerlei Interpretationen und Erwartungen evoziert (sogar romantische), obwohl der Plot im Grunde nur die Bedeutung »gewalttätig« meint. Daran lassen die drastischen, bis zur Unerträglichkeit konkret-anschaulichen Schilderungen keinen Zweifel, und die Autorin dringt damit zum psychologischen Kern des Problemkomplexes vor: Gewalt und Reue, Schuld und Scham, Schmerz und Unterwerfung, Hass und Resignation als kaum vereinbare Facetten einer pervertierten Liebe.
Aus dem deprimierenden Gesamtbild gestattet uns die Autorin gelegentliche Ausbrüche in Form kurios-witziger Kommentierungen – eine Art comic relief, mit dem sich die Opfer wohl auch selbst tröstend über Wasser halten. So erscheint die Mutter in ihrem Leid wie »ein Hitmix aus Scarlett O’Hara und der Pietà«. Die Familie hätte in ihrer Perfektion »im Zirkus auftreten können … Papa balanciert auf dem Stahlseil in weiter Höhe, Mama ist fürs Erotische zuständig, fliegt ab und zu leicht bekleidet durchs Bild, Bruno als Löwendompteur, und Max macht irgendwas Schönes für die Seele,ein zarter Tanz mit dem Feuer vielleicht … [ich] moderiere alle an und belabere die staunenden Besucher … Wenn Alex mal ihren Arsch herbewegte, dann säße sie vermutlich im Publikum«.
Solche Passagen mögen für einen Moment erheitern, befremden aber auch. Claudia Schumachers Debütroman ist eine anspruchsvolle, verstörende Lektüre.