Rezension zu »Nur eine Ohrfeige« von Christos Tsiolkas

Nur eine Ohrfeige

von


Belletristik · Klett-Cotta · · Gebunden · 510 S. · ISBN 9783608939026
Sprache: de · Herkunft: au

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Jeder kämpft für sich allein

Rezension vom 25.02.2012 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Ein Insekt berührt kurz die Oberfläche eines Waldsees, Wellen bilden sich, zie­hen immer größere Kreise und verebben irgendwann. Wie viel weiter reichende Konsequenzen dagegen eine Ohrfeige haben kann, beschreibt Christos Tsiol­kas in seinem Gesellschaftsroman.

An einem wunderschönen australischen Sommertag lädt das Ehepaar Hector und Aisha Freunde und Ver­wandte zu einem Barbecue. Hector ist Sohn griechischer Einwanderer, seine Frau eine Inderin. Auch ihre Gäste bilden einen bunten Mix unterschiedlichster Herkunft, religiöser Zugehörigkeit und sozialer Stel­lung; verschiedenste Kulturen und politische Meinungen begegnen sich. Man kennt sich, man toleriert sich. Ältere, wie Hectors Eltern, und Jüngere, wie die Highschoolstudenten Richie und Conny oder die Kinder der Ehepaare, unterhalten sich prächtig, jeder auf seine Weise.

Doch dann kommt es zu einem Zwischenfall. Dessen Auslöser ist der dreijährige Hugo, ein unerzogener und nerviger Balg, der immer noch an Mutters Brust gestillt wird und sofort lauthals loszuschreien pflegt, sobald er nicht seinen Willen bekommt. Der will sich einfach nicht in das Kricketspiel der anderen inte­grieren lassen. Rocco, der Sohn Harrys, eines Cousins von Gastgeber Hector, will Hugo den Schläger ab­nehmen, doch dieser holt schon zum Schlag aus. Ehe er Roccos Kopf trifft, landet Harrys Hand im Gesicht des kleinen Jungen. Hugos Vater ist entsetzt über diese Züchtigung seines geliebten Kindes durch einen anderen Mann. Mit wüsten Beschimpfungen und der Drohung, sie würden diesen Kindesmissbrauch anzei­gen, packen die Eltern ihren Sohn und verlassen den Tatort. Die Party ist zu Ende.

Im weiteren Verlauf des Romans geht es dem Autor gar nicht so sehr um die Klärung dieses Sachverhalts, um richtig oder falsch der Ohrfeige. Zwar wird bei Gericht ein Urteil gefällt, aber der Leser muss sich doch seine eigene Meinung bilden …

In acht ungefähr gleich langen Kapiteln kommen je vier Männer und Frauen – die Protagonisten – nachein­ander zu Wort. Der Leser liegt mit seiner Erwartungshaltung, nun werde der Autor den Nachmittag und den Vorfall aus acht verschiedenen Perspektiven immer wieder neu aufrollen, völlig falsch. Nein: Die Handlung fließt zeitlich weiter. Am Rande wird die »Ohrfeige« natürlich immer wieder mal thematisiert, ist sie doch Auslöser der nachfolgenden Ereignisse. Aber der eigentliche Sachverhalt ist dem Autor neben­sächlich. Vielmehr geht es um die Lebensweise seiner Figuren, um das Zwischenmenschliche wie Liebe und Hass, Respekt und Verachtung, Toleranz und Unterdrückung, Erziehung und Vernachlässigung. Insge­samt fügen sich die differenziert vorgestellten Personen zu einem gesellschaftlichen Gesamtbild, als dessen gemein­samer Nenner sich herauskristallisiert, dass bei keiner der erste, vordergründige, vermeintlich posi­tive Eindruck, den sie während der Gartenparty vermittelte, Bestand hat. Die polierten Glasscheiben, hinter denen diese Menschen leben, haben bei näherer Betrachtung unendlich viele Risse. Abgründe tun sich auf.

Alkohol, Drogen, Sex (mit unschönen Beschreibungen), unerträgliche Streitereien der Partner, ausgefoch­ten mit einem Vokabular voller Beleidigungen und Menschenverachtung, bestimmen ihr Leben. Es gibt keine einzige intakte Beziehung, weder unter Freunden noch unter Verwandten. Betrogen, hintergangen und doch voller Sehnsucht nach einem anderen Leben stecken die Figuren in Lebenslügen, die jetzt teil­weise ans Tageslicht durchbrechen, gebeichtet werden.

Gibt es denn gar kein Glück? Nirgendwo? Schonungslos und eigentlich ohne Hoffnung auf Besserung in naher Zukunft beschreibt der Autor seine Einsichten in die australische Gesellschaft, und die unterscheidet sich im Prinzip nicht von den anderen der gesamten westlichen Welt …

Christos Tsiolkas, 1965 im australischen Melbourne geboren, ist Sohn griechischer Immigranten. Sein Roman »The Slap« Christos Tsiolkas: »The Slap« bei Amazon kaufen 
(öffnet neuen Browser-Tab) wurde 2008 veröffentlicht, erhielt den »Commonwealth Writers’ Prize« und hat es auf die Longlist für den »Man Booker Prize« 2010 geschafft. Nicolai von Schweder-Schreiner hat ihn ins Deutsche übersetzt.

Nachtrag im September 2013: Im Jahr 2011 wurde der Roman in eine achtteilige Serie für das australi­sche Fernsehen umgesetzt. Die erhielt ebenfalls weltweit gute Kritiken und zahlreiche Auszeichnungen (»The Slap TV series« auf DVD für Region 2/GB in englischer Sprache TV-Serie »The Slap« bei Amazon kaufen 
(öffnet neuen Browser-Tab)). Ab dem 5. September 2013 strahlt Arte die deutschsprachige Version »The Slap – Nur eine Ohrfeige« aus, und zwar jeweils zwei Teile jeden Donnerstag um 20:15 Uhr. Sehr sehenswert!


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