Rezension zu »Knochen kochen« von Christian Mähr

Knochen kochen

von


Heimatkrimi · Deuticke · · Gebunden · 416 S. · ISBN 9783552062801
Sprache: de · Herkunft: at

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Gute Hausmannskost

Rezension vom 07.01.2016 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

»Sudor anglicus«, der Englische Schweiß, ist eine höchst anste­ckende Infek­tions­krank­heit mit meist tödli­chem Verlauf. Mit den grippe­ähn­lichen Symp­tomen – plötz­li­ches Fieber, Schüttel­frost, Schwindel, Herz­rasen, Kopf- und Glie­der­schmerzen – gehen schwere Angst­gefühle einher. Nachdem die rätsel­hafte Seuche im 15. Jahr­hundert erst­mals in England auftrat, raffte sie Tau­sende Men­schen dahin, sprang dann über den Kanal aufs Fest­land und verbrei­tete sich über Frank­reich und Deutsch­land bis in die Schweiz und nach Öster­reich. Eine Arme-Leute-Krank­heit war es nicht: Die Tudor-Royals wurden genauso geschlagen wie das öster­reichi­sche Adels­geschlecht derer von Seiten­stet­ten-Mark­harts­burg.

Obwohl heute kaum einer mehr von der einsti­gen Volksplage weiß, sorgt sie noch über vier Jahr­hun­derte später für Auf­regung. Sie be­tritt ge­wisser­maßen in Gestalt des Eras­mus von Seiten­stetten das Gast­haus »Blaue Traube« in Dorn­birn, und aus ist es mit der Vor­arl­berger Be­schau­lich­keit dortselbst. »Grüß dich, Lumpi« – drei Wörter des Barons bei sei­nem Ein­treten genügen, und schon hat Matthäus Spiel­berger, der Wirt, die Faxen dicke. Der Spitz­name »Lumpi« hängt ihm seit Unter­stufen­zeiten an wie eine Bazille, und jetzt ent­springt er ausge­rechnet dem Munde seines ehe­maligen Mit­schülers Eras­mus. Dieser »Trottel« hat damals regel­mä­ßig die Haus­auf­gaben bei ihm abge­schrie­ben. Wenn er jetzt extra aus Wien ange­reist kommt, über­raschend und über­fall­artig, muss es ihm schon sehr pres­sieren mit einem Problem, für dessen Lösung mal wieder Matthäus her­hal­ten muss.

Zur Einführung erteilt Erasmus dem Matthäus – in Geschichte eher des­inter­es­siert – etwas Nach­hilfe. In der Schlacht von Bosworth (1485) besiegte Henry Tudor (später König Henry VII.) Richard III. Im Feld­lager erkrank­ten immer mehr Soldaten an der bislang unbe­kannten Schwitz­krank­heit und ver­star­ben, da­runter auch der Seiten­stetten-Vorfahr Ferdi­nand-Eras­mus. Im Nach­lass eines kürz­lich heim­ge­gan­ge­nen Onkels fand Eras­mus einen Hinweis auf die Todes­ur­sache seines homo­nymen Ahnen.

Nun muss man wissen, dass der Erasmus im Ge­gensatz zum Matthäus – »schad, dass aus (ihm) nix Bes­se­res gewor­den ist« – eine be­acht­liche Kar­riere hinge­legt hat. Er ist Pro­fessor der Me­di­zin­ge­schich­te an der Univer­sität Wien. Obwohl die Liste seiner Ver­öffent­lichun­gen in Fach­jour­na­len einen hal­ben Meter lang ist, muss er sich etwas ein­fallen lassen, um die akade­mische Karriere ein wenig anzu­kur­beln. Die Finanz­lage der Uni ist »am Oarsch«, Stel­lung und Titel kann er sich »in die Hoar schmiern« – Eigen­initia­tive ist gefragt. In dieser Not recken sich dem Forscher die ver­moder­ten Knochen jenes Ferdi­nand-Eras­mus entge­gen, damit er ihr Ge­heim­nis mittels moder­ner DNA-Analyse ent­schlüssle. Das wäre ein Knül­ler, denn der »Sudor anglicus« ist nach wie vor ein großes Rät­sel.

Mit seinen universitären Mitarbeitern mag Erasmus das Projekt freilich nicht angehen. Sein Assistent Laska, »der Pest­fetzen, der zwidere«, würde ihm die Ergeb­nisse zum eigenen Nutzen klauen, die an­deren (haupt­sächlich weib­lich) sind »unge­eignet fürs Prak­tische. Die wis­sen alle net, wo bei aner Schau­fel vorn und hintn is«. Das aller­dings ist eine Grund­quali­fi­kation, denn schließ­lich müs­sen die ollen Knochen zu­nächst einmal aus der Fami­lien­gruft des Adels­ge­schlechts im Wiener­wald aus­ge­buddelt wer­den. Matthäus und ein paar an­dere Dörfler können sowas ...

Matthäus rekru­tiert seine besten Freunde (und Stamm­kunden), die drei Unruhe­ständler Lothar Moos­mann (Holz­schnitzer), Franz Josef Blum (Buch­halter) und Dr. Lukas Pera­toner (Chemie­lehrer) als wissen­schaft­liche Hilfs­kräfte und schwört sie auf äußerste Ge­heim­haltung ein. Hundert Euro pro Tag sollen für jeden heraus­springen. Gleich am nächsten Tag besteigen die vier Verbün­de­ten der »Spiel­berger-Bande« den Frühzug nach Wien, wo der Herr Profes­sor mit seiner liebens­würdigen Amalie, so be­tucht wie exal­tiert, in einer her­unter­ge­kom­me­nen Gründer­zeit­villa resi­diert. Aller­dings pflegt die feine Baronin schon seit zwei Jahren ein intimes außer­ehe­liches Verhält­nis. Die Pläne, die ihr der Gemahl ver­trauens­voll ans Herz legt, macht sich die Un­treue ganz un­geniert zunutze und spielt lieber ihr eige­nes Spiel.

Mit Spitzhacke, Hammer, Meißel und Teleskop­leiter geht es im Pickup in den Wiener­wald. Bei heftigem Land­regen steigt die kon­spi­rative Fünfer­bande mitten in der Nacht in die Gruft hinab. Leider müssen sie erfahren, dass sie nicht allein auf der Pirsch sind. Die Kon­kurrenz – zwei maskierte und bewaff­nete Män­ner – schnappen ihnen weg, was vom alt­ehr­wür­di­gen Ferdi­nand-Eras­mus noch auf­zu­sam­meln war.

Damit nimmt eine turbulente, chaotische Tour des Grabes, Grabens und Jagens ihren Lauf, ein kno­chen­harter Ritt mit vielen Figu­ren, Schau­plät­zen und Neben­hand­lungen, ein einziges Kuddel­muddel, aben­teuer­lich und kaum auf­zu­drö­seln. Die Fanta­sie des Autors kennt keine Grenzen, und er er­rich­tet die kühnsten Hand­lungs­kon­strukte, damit bloß kein Einfall in den Papier­korb wan­dern muss. Bei­spiels­weise sitzt der kon­ver­tierte Dschi­hadist Achmed (ehe­mals Alois Prax­ner) gerade in einer madri­leni­schen Bar, als er die Geschichte vom Leichen­raub daheim in Öster­reich er­fährt. Er erkennt sogleich die »Zeichen« und entwirft eine Aktion, die ame­rika­ni­schen Think­tanks ent­sprun­gen sein könnte: die Tod brin­gen­den Knocherln zu Pulver zer­mah­len und mit dem »Schutz des Aller­höchsten« unter den Un­gläu­bigen ver­streuen ...

Trotz drohen­dem Dschihad, einem Unter­gangsszenario im Dorn­birner Messe­park und furio­sem Schluss mit tödli­chem Schuss­wechsel kommt in Chris­tian Mährs »Knochen ko­chen« keine wirklich pri­ckelnde Span­nung auf. Das muss auch nicht sein – schließ­lich ist es ein Heimat­krimi. Ohne platt zu werden, be­wahrt er einen liebens­würdigen, bo­den­ständigen Charak­ter vor allem in den harmlos skurri­len Figuren der Dorn­birner Bu­ben. Der Franz-Josef ist ein ro­man­tischer Schisser. Wenn Angst­gefühle sich seiner be­mäch­tigen, schmettert er zur eigenen Beruhi­gung Opern­arien. Der Matthias wird von einer Art »Prä­kog­nition« heim­gesucht. Träume, perfekt wie Videos, »in Farbe und 3-D«, zeigen ihm Er­eig­nisse der nahen Zukunft, und die Wirk­lichkeit wird zum Déjà-vu.

Auch in der Nacht, bevor der Spezi Seiten­stetten bei ihm aufgetaucht war, hatte Matthäus wieder mal ge­träumt. Deutlich vernahm er die markanten Stimmen seiner Freunde, die mit Spaten und Hacken durch einen Wald mar­schier­ten, offen­bar um etwas auszu­graben. »Aber was? Und warum?« Mähr erzählt es uns und lässt dabei seine Helden munter im hei­mat­lichen Dia­lekt palavern. Bis auf wenige Aus­nahmen ver­steht das auch jeder »Piefke«, und zur Not – »Schpom­pa­na­deln«? – hilft ein Spezialwörterbuch.

Wie bei diesem Genre zu er­warten und er­wünscht, tropfen altbekannte Kli­schees aus den Seiten. Den öster­reichi­schen Lesern wird die seit Genera­tio­nen kulti­vierte Vor­arl­ber­ger Hass­liebe für Wien vertraut sein. Die snobis­tischen Pro­vinz­ler sind entwe­der »Wien-Fans« oder »Wien-Hasser« – »da­zwi­schen gab es nichts«. Die »Piefkes« dürfen sich dafür über Seiten­stettens »ur­wiene­rische, baro­neske Aura aus Ver­schro­ben­heit, Jovia­lität und leichter Trottelei« amü­sieren und an ›exotischen‹ Schau­plätzen wie Frasta­feders und seiner seit vier­hun­dert Jah­ren ver­schwun­denen Burg er­freuen, sofern sie sich nicht lieber im Dorn­birner Messe­park, Vor­arl­bergs Shop­ping-Center Nr. 1, zwischen all den roten »Sale«-Schildern bei der Schnäpp­chen­jagd tum­meln.

»Knochen kochen« ist gut gemachte Unter­haltung aus der Region, eine Art litera­rischer Schweins­braten mit Knödel und Kraut.


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