Ein Quilt wilder Geschichten
Ein Bild des Grauens lässt das Herz der beiden Männer stillstehen. Im Schuppen finden sie die zwölfjährige Sarah, ihr Kleid zerrissen, an ihrem Schenkel Blut, und daneben, mit einem Messer in der Hand, ihr eigener Bruder Quinn, vier Jahre älter als das Mädchen, das er offensichtlich ermordet hat. Ehe Vater Nathaniel und sein Bruder Robert den Jungen ergreifen können, ist er durch ein Loch nach draußen geklettert, hat die Beine in die Hand genommen und ist spurlos verschwunden.
Was sich an jenem Tag im Jahre 1909 wirklich zutrug, während über dem australischen Städtchen Flint ein Unwetter tobte, und was zehn Jahre später geschah, darum ranken Legenden, die die Klatschmäuler des Ortes hegen und pflegen. Abends lässt man die Kinder nicht gern aus dem Haus, denn Quinn Walkers mörderischer Geist geht um.
Dass Quinn zehn Jahre nach der entsetzlichen Bluttat wieder in der Umgebung ist, stimmt tatsächlich. Dorftrottel Edward ist in den Bergen auf ihn gestoßen und hat ihn sogleich wiedererkannt, obwohl sein Gesicht entstellt und er ganz heruntergekommen ist. Edward hat ihn gewarnt vor der Seuche, die in der Gegend grassierte, und vor Vater Nathaniel und Onkel Robert, der inzwischen der Mann für Recht und Ordnung geworden ist. »Sie würden Sie nur zu gerne aufknüpfen.«
Quinn beobachtet die Farm seiner Eltern und wartet vorsichtig. Erst als Nathaniel weggeritten ist, wagt er es, sich zu nähern und einzutreten. Seine Mutter Mary ruht auf ihrem Bett. Sie ist von der Epidemie gezeichnet und hält den Eindringling zunächst für den nahenden Tod, ehe sie ihren Sohn erkennt.
»Ich war's nicht.« All die Jahre voller Aufregungen und Leid hat Quinn nur durchgestanden, um endlich seine Eltern von seiner Unschuld zu überzeugen. Natürlich glaubt ihm die Mutter; sie wusste schon immer, dass er ein »liebenswerter Junge« ist. Aber mit dieser Ansicht steht sie auf verlorenem Posten, wo alle anderen die Messer wetzen.
Wir Leser stehen natürlich auch auf ihrer Seite. Selbst den mutmaßlichen Täter haben wir gedanklich schon im Visier. Doch damit verliert das Buch weder seinen Reiz noch an Spannung; es gewinnt sogar an Intensität, denn es wird atmosphärisch zunehmend dichter.
Quinn ist das lebende Abbild der furchtbaren Kriegsjahre in Europa. Nach verschiedenen Gelegenheitsarbeiten meldete er sich wie so viele freiwillig, um »das Schwert der Gerechtigkeit« zu ergreifen und für »Ruhm und Ehre« zu kämpfen. Was er zu sehen bekam, »wozu Menschen fähig sind«, das kann er nicht erzählen; keiner würde es glauben. Er überlebte einen Gasangriff und Artilleriegefechte, aber nicht ungeschoren. Die Kanonen haben sein Gehör geschädigt, er leidet an Schluck- und Atembeschwerden, sein Gesicht wurde von einem Schrapnell getroffen, und er trägt schwer an der Scham über seine eigenen Taten. Den Lohn dafür, die Tapferkeitsmedaille, hat er während der Schiffspassage in den Tiefen des Meeres versenkt. Andere Soldaten haben sich selbst über Bord gestürzt, um endlich Frieden zu finden. Aber Quinn treiben Rachegedanken nach Hause, er will den Mörder seiner geliebten Schwester zur Verantwortung ziehen. Doch jetzt fehlt es ihm an Mut; er verbirgt sich weiterhin im Buschland.
Eines Tages taucht wie ein Kobold ein verdrecktes kleines Mädchen bei ihm auf, barfuß und in Lumpen. Sadie ist elf und eine Waise. Um nicht in ein Heim gesteckt zu werden, hält sie sich in einer Bruchbude oberhalb des Ortes versteckt und wartet auf die Heimkehr ihres Bruders, eines Kriegspiloten. Sie ist ein scheues Wesen, spricht mit den Tieren und Pflanzen und glaubt an schützenden Zauber. Vom Dach ihrer Hütte baumeln mit Wollfäden zusammengebundene Vogelknöchelchen und klimpern trocken im Wind.
Erstaunlich: Sie weiß alles über Quinn – dass alle ihn den »Mörder« nennen und was er getan hat und dass alle glauben, er sei im Krieg gefallen. Damit könnte sie ihn ausliefern ... Dann aber flößt sie Quinn irgendwelches heilsames Gebräu gegen seinen erstickenden Husten und die quälenden Bauchschmerzen ein und erleichtert sein Leiden. Für solche Fürsorge, wie er sie seit langem nicht mehr kennt, würde er gern seine Dankbarkeit erweisen, aber wie? Sadie fordert einen Schwur »bei meiner Seele« und ein Blutritual ein: Quinn soll mit einem Messer ein Kreuz in seine Brust ritzen ...
Der australische Schriftsteller Chris Womersley hat mit »Bereft« (übersetzt von Thomas Gunkel) einen großartigen, aufwühlenden Roman voller Poesie und Magie verfasst, der den Leser von der ersten bis zur letzten Zeile fesselt und überzeugt.
Schon der Titel ist suggestiv (Das englische bereft hat einen breiteren ›immateriellen‹ Bedeutungsumfang als »beraubt«.) und in der Handlung vielfach verankert. Die Protagonisten Sadie und Quinn wurden der Liebe ihrer Familien und ihres Vertrauens in andere Menschen beraubt und zerbrachen daran seelisch. Der Krieg hat seinen Tribut gefordert und Frauen ihrer Männer und Söhne beraubt. Die Sprache hält keine Vokabel bereit für »eine Mutter, die ein Kind verloren hat« (als Entsprechung zu »Waise« für ein Kind, das keine Eltern mehr hat), und so wählt Quinns Mutter den Begriff »beraubt«, um ihr Schicksal zu beschreiben. Selbst der Schauplatz im australischen Outback ist bereft. Früher war Flint einmal im Goldrausch; die Zeiten sind lange vorbei. Jetzt zog eine Epidemie übers Land und hat viele Menschen dahingerafft.
Womersley erhielt für das beeindruckende Buch mehrere Preise und Anerkennungen (Australian Book Industry Award for Literary Fiction, Indie Award for Fiction; Nominierung für den Gold Dagger Award).