Was auf das Ende folgt
von Chris Whitaker
Ein kleiner Junge verschwindet aus der Obhut seiner haltlosen, sehr jungen Mutter, und viele, viele andere Ereignisse verknüpfen sich in Tall Oaks.
Ausladendes Panoptikum einer ungemütlichen US-Kleinstadt
Was auf das Ende folgt, nimmt seinen Anfang in Tall Oaks, einer (fiktiven) kalifornischen Kleinstadt, wo sich fast alle kennen und im Blick haben. Infolgedessen ist alles fein und sauber – nach außen hin. Die Fassaden glänzen, doch der Schein trügt. Risse durchziehen das Idyll. Dies schildert uns der Autor in kurzen Erzählabschnitten, die uns Einblick in die Lebensverhältnisse einzelner Figuren vermitteln und sich wie die bunten Splitterchen eines langsam, aber stetig rotierenden Kaleidoskops zusammenfügen. Allerdings rücken vor allem die düster gefärbten Steinchen als Orientierungspunkte in den Vordergrund.
»Tall Oaks«, von Wolfgang Müller übersetzt, ist somit ein zigfach gestückelter Roman. Er setzt ein mit dem Ortspolizisten Jim, der der Aufzeichnung eines anrührenden Verhörs lauscht. Die junge Jessica Monroe ist völlig verzweifelt, seit ihr Mann Michael einfach abgehauen ist und sie alleine mit ihrem dreijährigen Harry zurückgelassen hat. Ihre Verfassung ist desolat, ihre Nächte sind schlaflos, ihre Seele von Angst zerfressen. Was sie aufrecht hält, ist die Hoffnung, dass Michael zu ihr zurückkommt, der starre Blick auf den Monitor der Überwachungskamera des Kinderzimmers und ein griffbereites Messer.
Nichts von alledem kann verhindern, dass der kleine Harry eines Tages weg ist, und die Geschichte des verschwundenen Kindes ist, sofern man denn einen dominierenden ausmachen kann, der rote Faden im Roman. Natürlich verläuft die Suche nach dem Jungen anfänglich intensiv, doch da sie zu keinerlei Ergebnissen führt, bricht das FBI seine Arbeit ab. Damit aber kann Jessica sich niemals abfinden. Nun stürzt sie in noch tiefere Abgründe, steht meist unter Alkoholeinfluss, läuft kopflos durch den Ort, hängt Suchplakate auf, lässt sich auf oberflächliche Sexbeziehungen ein, die die fehlende Zuwendung ihres Ex-Mannes ersetzen sollen.
Jim, den Polizisten, rührt das nicht zu übersehende Elend, es weckt seine Schutzinstinkte, und er verliebt sich in »Jess«. Vor den Typen, die ihr in den dunklen Spelunken Gewalt antun, will er sie bewahren, doch dabei muss er seine Wut arg im Zaun halten, denn in seinen Anfangsjahren als Cop in Boston hatte er seine ktaftvollen Fäuste oft missbraucht. Hier zu Hause in Tall Oaks hat er sich vorgenommen, sich um die Nöte und Probleme der kleinen Leute zu kümmern.
Zwei kunterbunte Steinchen im dahinplätschernden Mosaik des Städtchens sind dagegen zwei Highschool-Jungs im letzten Jahrgang, die davon träumen, als Mafiosi das ganz dicke Geld einzukassieren. Manny ist der selbsternannte Boss, und als solcher besteht er auf adäquater Kleidung (im Fünfzigerjahre-Stil) selbst bei Affenhitze: schwarz glänzende Budapester Schuhe, ein Nadelstreifen-Dreiteiler (im Sommer preisreduziert) und obenauf ein (viel zu kleiner) Fedorahut. Dazu passend will er fortan »M« gerufen werden, in Anlehnung an sein Vorbild »T« (Tony Soprano). Sich das zu merken überfordert allerdings schon seinen Kumpel Abel Goldenblatt, der überdies einfach nicht kapieren will, wie man beim Metzger oder der Reinigung um die Ecke »Kohle eintreiben« kann. Denn wo immer das Gangsterduo auch auftaucht und Schutzgelder fordert, ernten sie nichts als Gelächter.
Eine wahrhaft erbarmungswürdige Figur ist wiederum Jerry Lee, 35, groß und korpulent, mit hoher Fistelstimme und Allergien aller Art geschlagen. Zu Hause muss er sich um seine schwer kranke Mutter kümmern, wofür die verbitterte, gehässige Frau ihm das Leben zur Hölle macht.
PhotoMax, der Laden, in dem er angestellt ist, ist sein Refugium – hier ist er abgeschirmt vom Gespött der Leute und findet Zeit für sein Hobby, das anspruchsvolle Fotografieren. Dazu hat er sich im Haus der längst verstorbenen Urgroßeltern eine Dunkelkammer eingerichtet und hält seit dreizehn Jahren ein Abonnement des National Amateur Photography Magazine. Sein Traum ist, einmal am alljährlichen Wettbewerb der Zeitschrift teilzunehmen – allein ihm fehlt die Traute. Mit der jungen, hübschen Lisa ermutigt ihn eine wichtige Person, denn insgeheim schwärmt er für sie, aber sie ist auch die unantastbare Verlobte von Max, seinem Arbeitgeber.
Die Liste der originellen Charaktere in Chris Whitakers kleinem Universum ist lang, und irgendwie verstricken sich ihre Wege, kurz bevor man sie schon wieder aus den Augen zu verlieren droht. Ein schwuler Konditor, Perfektionist mit Neurosen, bekommt den Auftrag, die Hochzeitstorte für eine Milliardärsfamilie zu kreieren, mit handgeformtem Brautpaar auf Tortenständer in Blattgold gefasst. Seine einzige Mitarbeiterin ist Mannys alleinerziehende Mutter, die beharrlich, aber bislang vergeblich nach dem Mann fürs Leben sucht. Ein neu zugezogener Autohändler erregt ihr Interesse, aber Manny ist misstrauisch. Irgendwann rückt ein Paar nach vorn, dessen Ehe nach dem Tod ihres Babys starke Risse bekommt.
Jede dieser teils exzentrischen Figuren zieht einen Erzählschweif hinter sich her, und nicht wenige davon bringen genug an Problematik und Tiefe mit, um zum Plot eines eigenständigen Romans ausgearbeitet zu werden. In der stofflichen Überfrachtung wirkt Chris Whitakers Debütroman wie ein Versuchsfeld seiner Kreativität. Andererseits geht in der Fülle der überwiegend gebrochenen Figuren und ihrer schicksalhaften Verflechtungen auch manche Tragik unter. Weniger wäre wohl mehr gewesen.
Übrigens ist »Tall Oaks« bereits 2016 erschienen. Bei uns ist der Nachfolger, Chris Whitakers zweiter Roman »We begin at the end« (2020), schon vor dem Debüt an den Start gegangen: Als »Von hier bis zum Anfang« kam er 2021 in die Buchhandlungen [› Rezension].