Von hier bis zum Anfang
von Chris Whitaker
Eine rasende Dreizehnjährige setzt sich in den Kopf, den Mord an ihrer Mutter zu rächen.
Blinde Rache
Cape Haven ist ein kleines, aber beliebtes (fiktives) Urlaubseldorado in Kalifornien, das manchen seiner Bewohner Glück und anderen Unglück beschert hat. Denn Stürme und Fluten haben die Klippen zermürbt, bis sie zusammenbrachen und die Häuser auf ihrem Rücken mit in die Pazifikwellen rissen. Dies verschaffte nun freilich den Immobilien in der zweiten Reihe unverstellten Meerblick und steigerte ihren Wert über Nacht gewaltig. Die Verlockung, den Zuwachs schnell zu versilbern, ist groß, aber nicht jeder will verkaufen.
Mit all dem hat Star Radley, die mit ihren beiden Kindern Duchess, 13, und Robin, 5, hier wohnt, nichts am Hut. Zu dritt über die Runden zu kommen fordert die Alleinerziehende stärker, als es ihr gut tut. Vom Vater der Kinder erhält sie keine Hilfe (den Kindern ist er nicht einmal bekannt), und so jobbt sie des Nachts als Sängerin und Tänzerin in einer Bar. Deren Besitzer, der auch im Immobilienhandel clever mitmischt, ist einer der vielen Männer, die die attraktive, aber heruntergekommene Frau unverblümt anbaggern und alles andere im Sinn haben als ihr zu helfen. Star erscheint ihr Leben aussichtslos, und sie ertränkt es in Alkohol- und Drogenexzessen.
Chris Whitakers Roman »We begin at the end« setzt hier ein. Das Jahr 2005 ist »the end« bzw. (in der Übersetzung von Conny Lösch) das »Hier« eines wendungsreichen, über viele Seiten erst einmal rätselhaften Handlungsplots. Dreißig Jahre zuvor, am »Anfang«, hatte alles gar nicht schlecht begonnen. Da war Star Teil einer lebensfrohen, unzertrennlichen Clique von Fünfzehnjährigen. Zu denen gehörten der attraktive Vincent, sein bester Freund Walker und Martha, die mit Walker ein zärtliches, sittsames Verhältnis unterhielt.
Wie die Ozeanklippen im Sturm bricht die jugendliche Unbeschwertheit jäh zusammen, als Stars siebenjährige Schwester ermordet wird. Vincent gerät sofort unter Verdacht, wird verhaftet, verurteilt und erbarmungslos hart bestraft. Während der vielen Jahre, die er in einem Gefängnis für Erwachsene zubringen muss, bleibt sein Freund Walker von seiner Unschuld überzeugt und hält Kontakt zu dem in sich gekehrten, schwer zugänglichen Inhaftierten. Derweil wird Walker Sheriff von Cape Haven, während Martha wegzieht und als Anwältin arbeitet.
Nach seiner Entlassung kehrt Vincent nach Cape Haven zurück, um dort einen zaghaften Neustart zu wagen. Doch als ein paar Tage später Star Radley ermordet wird, ist es schon vorbei mit dem neuen Leben. Bevor irgendeine Ermittlung Beweise ans Licht fördern kann, steht Vincent bereits wieder als Mörder fest. Nun schwebt allerdings das Damoklesschwert der Todesstrafe über ihm. (Sie wurde in Kalifornien zuletzt im Jahr 2005 vollzogen – dem »Hier« des Romans.)
Jetzt schlägt die Stunde von Duchesse als Protagonistin der außergewöhnlichen Art. Sie setzt sich ein einziges großes Ziel: den hinterhältigen Mord an ihrer Mutter zu rächen. Zum Vorbild nimmt sie sich einen Vorfahren, den Bankräuber Billy Blue Radley, den unversöhnlicher Hass zu einem Leben abseits des Rechts und gesellschaftlicher Konventionen trieb, und in seiner Tradition gibt sich die Dreizehnjährige jetzt als kämpferischer »Outlaw«.
Doch Duchesse ist von ihrem Erbe und ihrer tragischen Vita schwer belastet und verformt. Nie konnte sie ein Kind sein. Immer fiel es ihr zu, sich um die Mutter, den kleinen Bruder, den Haushalt zu kümmern. Nach all ihren Erniedrigungen, Überforderungen und Verletzungen, ihrer Deprivation und Isolation schreit ihre Seele förmlich nach Liebe, Zuwendung und Schutz. Gleichzeitig hat sie über die Jahre einen Schutzpanzer ausgebildet, dessen Stacheln sich wahllos gegen jeden aufrichten, der sich nähert, und geradezu tollwütige, asoziale Aggressionen auslösen. Schon mit ihren maßlos überzogenen Verbalattacken stößt sie jeden vor den Kopf, ausgerechnet auch jene, die es gut mit ihr meinen, die sie schützen und lieben wollen. »Wenn du noch einmal was über meine Familie sagst, schneid ich dir den Kopf ab, du Arschloch«, schreit sie einen Klassenkameraden an.
Auch die Erwachsenen haben ihr Leid zu tragen, doch tun sie es möglichst schweigend. Die entsetzlichen Verbrechen halten Hinterbliebene, Freunde und Nachbarn über Jahre fest im Griff. Nur langsam lassen Schmerzen nach, und alle tragen seelische Narben davon. Dennoch engagiert sich Chief Walker, wiewohl selbst mit einer unheilbaren Krankheit geschlagen, für das Wohlergehen der beiden Radley-Kinder und bietet immer wieder seine Hilfe an. Duchess aber verachtet ihn als Weichei (»für Weiches hatte sie keine Verwendung«) und traut ihm nicht zu, in der Gerichtsverhandlung auch nur das Geringste zur Wahrheitsfindung beizutragen.
Für eine gewisse Zeit finden die beiden Waisen ein neues Zuhause auf der Farm ihres Großvaters in Montana. Hal, Stars Vater, ist ein geduldiger, einfühlsamer alter Mann, der seine Enkel nie zuvor kennengelernt hatte. Während Robin sich einlebt und dafür das Unverständnis der älteren Schwester zu hören bekommt, kann Duchesse dem Großvater nicht verzeihen, dass er die kleine Familie nicht unterstützt hat – deswegen sei Star gezwungen gewesen, Geld in miesen Bars anzuschaffen, und zur Süchtigen geworden.
Chris Whitakers vielschichtiger Roman verbindet einen unlösbar scheinenden Kriminalfall mit einem tragischen Familiendrama. Seine Figuren mit ihren Entwicklungen, die Handlungsorte und die an Western erinnernde Atmosphäre, in die die Handlung eingebettet ist, wirken authentisch. Was das Buch aber auszeichnet, ist seine emotionale Wucht. Insbesondere das bewegende fehlgeleitete Seelenleben der jungen Protagonistin lässt uns Leser auf dem Weg, den sie unbeirrt verfolgt, nicht los und hält eine besondere Spannung hoch, bis zum bitteren Ende mit seiner unerwarteten, schmerzhaften Wendung. Ihre unbeschreibliche Katharsis erschüttert sie und uns zutiefst.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2021 aufgenommen.