Das Weinen der Vögel
von Chigozie Obioma
Der nigerianische Geflügelbauer Chinonso hat noch keine dreißig Jahre gelebt, da haben sie ihm schon größere Lasten aufgeladen, als er tragen kann. Das Übermaß an Leid und Schuld ist selbst Chi, dem Geistwesen, das über ihn wacht, zu viel. Er bittet den Schöpfer des Universums um Gnade.
Zum Herzerweichen
Was tun mit einem armen jungen Menschlein, dessen Leben aus eigener Unfähigkeit und Schuld, aber auch durch tragische Umstände restlos verfahren ist? Wenn sich der Mann, der ein Menschenleben vernichtet hat, dereinst beim Jüngsten Gericht verantworten muss, ist es zu spät. Dann kann er nicht mehr mit Gnade rechnen. Jetzt braucht er Hilfe, im Diesseits.
Vor dieser Frage steht Chi, der Ich-Erzähler, denn schließlich ist es seine Aufgabe, den jungen Geflügelbauern Chinonso Solomon Olisa, genannt Nonso, zu beschützen. Chi ist ein Wesen aus einer anderen Welt. Im Verlauf von siebenhundert Jahren und mehreren Reinkarnationen hat er viele Schicksale miterlebt, ehe er in Nonsos Körper einzog. Aber die Lenkungsmöglichkeiten eines solchen Schutzgeistes sind begrenzt. Er kann das Verhalten des ihm Anvertrauten nur dadurch zu beeinflussen versuchen, dass er ihm »Gedanken« eingibt, doch ob der ihnen folgt, liegt nicht in seiner Macht. Chi kann den Körper seines Schützlings verlassen, etwa um mit Kollegen zu beratschlagen, wie der Karren noch irgendwie aus dem Dreck zu ziehen ist, aber letztlich ist er machtlos. Der junge Bauer muss seine Suppe selber auslöffeln.
So lesen wir eine zum Weinen traurige Geschichte. Nonso – naiv, gutgläubig und weltfremd – rutscht mit jedem Schritt in seinem Leben in neue Schlammpfützen, immer mehr Lehm klebt an seinen Schuhen fest. Auf der anderen Seite wird ihm alles genommen: sein materieller Besitz, sein eigenes Selbst samt sozialer Werte. Sogar tief empfundene Liebe wandelt sich in kaum zu zügelnden Hass. Die Spirale aus Schicksalsschlägen, Fehlern, Demütigungen, Betrug, Misshandlung und Verzweiflung kann gar nicht anders enden als in einem Verbrechen. Ala, die Hüterin der Erde, wird Vergeltung für die Tat fordern. Doch Chi tritt, um seinen Schützling noch zu dessen Lebzeiten vor Alas Strafe zu bewahren, vor den Schöpfer des Universums, der von den »alten Vätern« unzählige Namen und Titel zugeschrieben bekam, und erzählt ihm (und uns), dass Nonso sein »Verbrechen aus Versehen begangen« hat.
Die fatale Handlung beginnt sieben Jahre zuvor. Nonso führt, nachdem die Eltern gestorben sind und die Schwester zu einem älteren Mann gezogen ist, ein trostloses Leben allein. Haus und Hof, Geflügel und Gemüsegarten lässt er verkümmern. Vergebens bieten Onkel Bonny und ein Freund ihre Hilfe an. Bonny und seine Frau raten ihm zu einer Gefährtin und wollen ihm bei der Suche helfen. Als Nonso tatsächlich der Liebe seines Lebens begegnet, ahnt er noch nicht, dass sie es ist. Da ist er in seinem Lieferwagen auf dem Rückweg vom Markt, wo er ein paar Hühner erwerben konnte. Zufrieden mit seinem Handel steckt er den Polizisten am Kontrollpunkt ihren Wegzoll heute sogar gerne zu. Doch kurz darauf erblickt er an einer Brücke eine junge Frau, die sich über das Geländer in die Tiefe stürzen will. Nonso hält an und redet heftig, aber erfolglos auf sie ein, von ihrem Vorhaben abzulassen. Sie gibt nicht einmal auf, als er spontan zwei seiner kostbaren Hühner in den Fluss wirft, um ihr das Sterben drastisch vor Augen zu führen. Damit hatte er »getan, was er konnte«, und lässt sie zurück.
Ein Dreivierteljahr später treffen die beiden an einer Tankstelle zufällig wieder aufeinander. Selbstbewusst stellt sich die schöne Frau auf Englisch vor. Sie heißt Ndali Obialor, studiert Pharmazie, lebt mit Eltern und Bruder in einer hochgesicherten noblen Villa mit Pförtner. Trotz der Standesunterschiede verliebt sich das ungleiche Paar und beschließt zu heiraten. Doch Ndalis Familie erweist sich als unüberwindliche Hürde. Sie demütigen den »Hirten der Vögel« ohne jegliche Ausbildung und intrigieren gegen die Beziehung. Obgleich Ndali für ihre Liebe sogar mit ihrer Familie zu brechen bereit ist, will Nonso sein Lebensglück nicht auf solch zerbrechlicher Grundlage aufbauen und wägt ab, Ndali wieder freizugeben.
Neue Hoffnung keimt auf, als ein früherer Klassenkamerad von paradiesischen Zuständen für Studenten auf Zypern schwärmt und Nonso rät, dort einen Studienabschluss zu erwerben – und damit Status und Anerkennung, um Ndali heiraten zu können. Wenn er den elterlichen Hof verkauft, werde er mit dem Erlös Nonsos Weg in die Zukunft vorab organisieren. Darauf lässt sich unser gutgläubiger Protagonist ein und verabschiedet sich schweren Herzens und unter gegenseitigen Versicherungen ewigwährender Liebe von Ndali. Im Gegensatz zu ihm ahnen wir, dass der Freund bei all dem nichts als seinen eigenen Vorteil im Auge hat, dass der mehrjährige Aufenthalt auf der Mittelmeerinsel ein einziges Desaster ist und die Rückkehr nach Nigeria neues, noch schlimmeres Unheil für Nonso bereit hält.
So erschütternd die Ereignisse auch sind, so fließt Chis Plädoyer vor dem Schöpfer doch leicht dahin. Die Außenperspektive dieses ungewöhnlichen, großartigen und in seinem Elan kaum zu bremsenden Ich-Erzählers schafft besondere Reize. Wie erfahren er auch ist im Jahrhunderte langen Umgang mit den Menschen, so kann er ihr Treiben doch nicht immer nachvollziehen. Wenn er sie dann ermahnt, auf die Erfahrungen der Väter zu vertrauen, kommt es zu manch komischer Situation.
Zauber entsteht aus den stilistischen Eigenheiten, die Nikolai von Schweder-Schreiner in seiner ausgezeichneten Übersetzung vermittelt. Da ist die kraftvolle, originelle Bildlichkeit voller Poesie (»… zu wissen, dass die Einsamkeit ein bissiger Hund ist, der die lange Nacht des Kummers hindurch bellt.« – »… während die Bäume in Beigwe ihre zauberhaften Klänge trugen wie glänzende Kleider. Noch jetzt strömt von überallher Musik in die erleuchteten Hallen wie Schweißperlen aus den Poren der Haut.«), da sind die Lebensweisheiten der Alten »in ihrer kaleidoskopischen Weisheit« (»Was ein alter Mann aus der Hocke sieht, sieht ein Kind nicht mal von einem Baum aus.« – »… dass, wie groß auch immer der Schmerz ist, die Augen doch niemals blutige Tränen vergießen. Wie lange ein Mensch auch weint, am Ende sind es nur Tränen«).
Dieser Roman ist tief verwurzelt in der Kultur der Igbo und Yoruba in Nigeria. Die beiden Ethnien haben eine differenzierte Kosmologie entwickelt, in der die Sphäre der Schutzgeister nur eine unter mehreren ist, die das menschliche Leben beeinflussen. (Zwei Schemata am Ende des Buches geben Einblick, und Chi nutzt Pausen im Handlungsfortgang, um uns seine Welt und die des Reichs der Ahnen näherzubringen.) Obwohl die Handlung von Nonso und Ndali in diesen transzendentalen Rahmen eingebettet ist, wird sie keineswegs idealisiert oder verklärt. Sie ist im Gegenteil sehr heutig und in ihrer sozialen Problematik hochaktuell. Dazu gehört, dass viele Igbo und Yoruba, von denen die meisten missionierte Christen sind, den althergebrachten, bewährten Wissensschatz ihrer Vorväter uneingeschränkt respektieren, den Ahnenkult pflegen und an gute und böse Geister glauben. Ihre Zeitauffassung richtet sich nach Natur und Jahresablauf, so dass es ihnen schwerfällt, sich dem Diktat einer weltumfassenden Uhrzeit zu unterwerfen und das zukunftsorientierte Denken und Forschen der Moderne zu akzeptieren.
Der siebenhundert Jahre alte Schutzgeist fungiert auch als eine Art Chronist des afrikanischen Kontinents. Seine Bewohner wurden ihrer Traditionen, ihrer Kultur, ihrer Spiritualität und ihrer Schätze beraubt, im eigenen Land unterdrückt, hunderttausendfach verschleppt und versklavt. In ihrer Heimat durften sie über lange Jahre nicht einmal ihre muttersprachlichen Dialekte verwenden, sondern mussten die Sprache der britischen Kolonialherren sprechen. All dies anzuprangern ist Teil der Intention des Autors. Der Titel (im Original »An Orchestra of Minorities« ) bezieht sich auf eine alltägliche Szene in der unerbittlichen Natur, der Nonso hilflos zuschaut: Ein Habicht kreist lange am Himmel über der Hühnerschar, bis er sich urplötzlich mit einem Schrei hinabstürzt und ein wehrloses Küken mit seinen Klauen packt und fortträgt. Die verbliebenen Vögel stimmen eine Art Trauerlied an, das wie Weinen klingt und von Nonsos Vater als »Orchester der Unterdrückten« interpretiert wurde – eine Metapher für sein ausgebeutetes Heimatland Nigeria.
Chigozie Obioma wurde 1986 in Akure (Nigeria) geboren und reüssierte als Schriftsteller bereits mit seinem Debütroman »The Fishermen« (2015), der mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt wurde (»Der dunkle Fluss« ). Sein zweiter Roman, »An Orchestra of Minorities« (2019), steht wie der Erstling auf der Shortlist des Booker Prize.