Kleine Feuer überall
von Celeste Ng
Izzy, jüngste Tochter der Musterfamilie Richardson aus einem Mustervorort von Cleveland, Ohio, erträgt nicht mehr das Paradies aus Lügen, in dem sie aufwächst. Sie sieht nur eine Lösung: alles abfackeln. Aus der Asche erwächst vielleicht ein besseres Neues.
Eine radikale Lösung
Ein perfektes Eigenheim in der Vorstadt, ein perfekter Haushalt, eine perfekte Familie, eine perfekte Nachbarschaft – das ist der Wunschtraum des Mittelstandes in den USA (wenn nicht überall). Die Richardsons haben ihn Ende der Neunzigerjahre in Shaker Heights am Rande von Cleveland, Ohio, verwirklicht. Bill ist Anwalt, Elena Journalistin, vor allem aber Mutter der vier Kinder Lexie (17), Trip (16), Moody (15) und Isabelle (»Izzy«, 14). Hier stimmt alles: ein sorgfältig gepflegtes Paradies aus Perfektion, Ordnung und Harmonie inmitten von Golf-, Reit-, Tennisanlagen, Segelclub und ausgezeichneten Schulen, kurz: die »schönste Wohngegend der Welt«.
Leider gibt es außerhalb dieser Oase eine Menge Menschen, denen das Vermögen fehlt (und vermutlich ewig fehlen wird), um sich hier anzusiedeln. Daneben gibt es weitere Gründe, warum der eine oder andere Mitbürger hier nicht rein darf. Auch Hautfarbe und sozialer Status müssen kompatibel sein. Und weil das irdische Utopia für die überwältigende Mehrheit ein Traum bleibt, lebt die glückliche Minderheit abgeschottet von den Problemen, die der Bevölkerung auf der anderen Seite den täglichen Daseinskampf versauern. »Die Bewohner von Utopia führen anscheinend wirklich ein ziemlich glückliches Leben«, schrieb das Magazin Cosmopolitan im März 1963 in einem Artikel über Shaker Heights, wo das Streben nach Glück sich ausgezahlt hat, ganz wie es der American Dream auch allen anderen verspricht.
Wohltätigkeit und Toleranz gehören zum Kanon der guten Eigenschaften eines good American. Lexie darf einen afroamerikanischen Freund haben (natürlich aus einer Familie von arrivierten Vorzeige-Farbigen wie die Cosbys aus dem Fernsehen). Die Richardsons spenden auch großherzig und geben eine zweite Immobilie, ein kleines Reihenhäuschen, aus purer Nächstenliebe an jene ab, die im Leben »keine faire Chance hatten«.
Als Mieterin bewirbt sich Mia Warren (36) mit ihrer Tochter Pearl (15). Ihre Hilfsbedürftigkeit sieht man ihnen an. Mia stellt sich als Künstlerin vor, die endlich sesshaft werden wolle. Um die Kosten für Lebenshaltung und Privatschule zu stemmen, werde sie mehrere Jobs annehmen. Wir ahnen schon, dass Mia und Pearl – trotz ihrer augenscheinlich liebevollen Mutter-Tochter-Beziehung – Unruhe in das Leben der Richardsons bringen werden.
All dies bereitet die amerikanische Autorin Celeste Ng (1980 in Cleveland geboren) im ersten Viertel ihres Romans »Little Fires Everywhere« auf (Brigitte Jakobeit hat das Buch ins Deutsche übersetzt.). Sie führt viele Charaktere ein (was sie sehr gut und einfühlsam kann) und schildert anschaulich die Verhältnisse in Shaker Heights. Leider bleibt die Exposition recht durchsichtig, langatmig und klischeeverhaftet. Nicht nur das Dorado der Vorstadt könnte Werbeprospekten entnommen sein, auch was wir über Geschlechterrollen und Mutterschaft, Armut und Reichtum sowie das Verhältnis der Ethnien zueinander lesen, klingt nach Stereotypen – und das nicht ganz unbeabsichtigt (»Es war, als beträte sie nicht ein Haus, sondern die Vorstellung von einem Haus, einem von ihr zum Leben erweckten Archetypen.«). Es geht der Autorin erst einmal ums Allgemeine. So erscheinen die Charaktere lange eindimensional, ihre Reaktionen vorhersehbar, was den literarischen Reiz in Grenzen hält.
Trotz alldem lesen wir gespannt weiter, denn die Autorin hat uns gleich im ersten Satz einen Knaller serviert, dessen Sogwirkung lange vorhält. Er nimmt das Ende der Handlung voraus: dass »das jüngste Kind der Richardsons endgültig durchdrehte und das Haus abfackelte«. Eine solch unerhörte Tat schreit nach einer überzeugenden Erklärung. Auf die platte Suggestion »wir wissen alle, dass sie spinnt« fallen wir nicht herein, suchen also nach besseren Gründen, werden hellhörig für subtile Phrasen, scharfsichtig für kleine Gesten. Bald erweist sich Izzy als eigenständige, sensible Persönlichkeit, deren kritische Haltung bei der kontrollsüchtigen Mutter als Aufsässigkeit wahrgenommen und brutal gedeckelt wird. Darüber hinaus hüten die Protagonistinnen (die Jungs bleiben in der zweiten Reihe) Geheimnisse in ihrer Vita und Abgründe in ihrem Wesen, die nach und nach ans Tageslicht brechen und eine Sprengkraft entwickeln, die manch strahlend sauberes Familienleben am Ende in Schutt und Asche legen.
Mrs Richardson ist hinsichtlich ihrer neuen Mieter zwischen Vorurteilen, Ängsten, Vorsicht und Neugier hin und her gerissen. Die Weichen aber stellen Pearl und Moody, überraschend in der selben Klasse. Die Neue beeindruckt durch ihre Klugheit, hilft Moody bei den Schulaufgaben und fühlt sich im Anwesen der Richardsons bald wohl und zu Hause. So auch Mia, die sich durch Hausarbeiten ein Zubrot verdienen darf. Umgekehrt begeistert sich Izzy für Mias Fotokünste und findet in Mia eine verständnisvolle Zuhörerin und Unterstützerin ihrer Aktionen gegen Ungerechtigkeiten.
Doch die Annäherung macht die Unterschiede der Lebensgewohnheiten und -auffassungen nur umso deutlicher. Erst einmal auf der Spur von Mias Geheimnis, ist Mrs Richardson nicht mehr zu bremsen. Unter Einsatz ihrer vielfältigen Beziehungen erfährt sie Unfassbares. Missverständnisse und ein Gerichtsverfahren um eine fragwürdige Adoption, das ganz Shaker Heights aufwühlt, treiben weitere Keile zwischen die beiden Familien, bis sie einander unversöhnlich gegenüber stehen und es zum Zerwürfnis kommt. Zufällig wird Izzy Zeugin, wie ihre Mutter irrwitzige Beleidigungen und Beschimpfungen über Mia ausschüttet – sie gipfeln in der Aufforderung, es werde »Zeit, dass Sie weiterziehen«.
So erwächst aus der etwas weitschweifigen, betulichen Einführung ein spannender Plot mit allerlei unerwarteten Wendungen, in dem ein unabhängig denkender junger Mensch eine in Selbstzufriedenheit erstarrte Gemeinschaft aufmischt, die sich parallel dazu selbst zerlegt. Celeste Ngs bitterböse Geschichte macht deutlich, dass Orte wie Shaker Heights nur eine brüchige Scheinwelt sind, die nur in ›splendid isolation‹, abgeschottet vom ›normalen‹ Leben bestehen können. Große Themen, die die Autorin hier anklingen lässt, sind unterschiedliche Lebensformen und -planungen, Bürgerlichkeit und Rassismus, Streben nach Glück und Perfektionswahn, Erziehung und Familienzusammenhalt, Mutter-Kind-Beziehung und jugendliche Selbstfindung.
Celeste Ngs professionell gefertigter Familien- und Gesellschaftsroman à l’Américaine nimmt den Leser mit seinem hintergründigen Humor und Szenen voller Spannung und Absonderlichkeiten immer stärker in Beschlag. Die Autorin gestaltet ihre Figuren lebensnah und einfühlsam, wobei der allwissende Erzähler, der zwischen den Perspektiven hin und her springt, dafür sorgt, dass der Leser ihnen immer ein Stückchen voraus ist. Das Ende ist dann trotz des unverhüllten Vorausverweises im ersten Satz ein Coup. Izzy hält ihr eigenes Elternhaus nicht mehr aus. Mit einem Kanister voll Benzin schreitet sie systematisch von Zimmer zu Zimmer und tut, was ihr aus dem Innersten als einzig richtige Lösung erscheint. Sie fackelt das Lügengebäude ab und nimmt auf Nimmerwiedersehen Reißaus. »Manchmal«, hatte ihr ihre Vertraute Mia erklärt, »muss man alles abbrennen und von vorn anfangen. Nach dem Brand ist die Erde fruchtbarer, und Neues kann wachsen. Genauso ist es bei den Menschen. Sie fangen von vorne an«.