Die üble Aura des Katzenmörders
Langsam vergeht die Zeit hier in den Tiefen der dunkelsten Wälder Vermonts. Ruhe und Gleichmaß bestimmen den Alltag. Auf Neuigkeiten wartet man vergebens.
In der alten Stuhlfabrik stehen die Maschinen schon seit fünfzig Jahren still. Über drei Generationen hinweg hatte der Familienbetrieb dem Ort Arbeit und Brot verschafft. Zu seinen besten Zeiten, in den Vierzigerjahren, konnte sich der ihr Chef unerhörte Reisen bis nach Alaska erlauben. Noch heute bezeugt ein gewaltiger Karibukopf mit ausladendem Geweih hoch oben an der Wand des Direktor-Büros die Abenteuer, mit denen der Vater des heutigen Eigentümers einst seine Zuhörer beeindruckte. Dass die fabelhafte Abschussquote seiner Großwildjagd mit dem legendären Elwood »Grizzly« Singleton mehr seinem Wunschdenken als der Realität entsprang (wie ja auch die mitgebrachten Trophäen weniger aus den Urwäldern als von einem Tierpräparator in Vancouver stammten), blieb Insiderwissen.
Was der stolze ausgestopfte Hirsch mit seinen Glasaugen heute unter sich erblickt, muss ihn allerdings mitleidig stimmen. Da lebt Alonzo, der Sohn des Jägers, inzwischen selber alt und immer noch alleinstehend, und verlässt sein Büro gar nicht mehr. Wenn die Müdigkeit ihn übermannt, lässt er sich auf dem Sofa niedersinken. Nach ein paar verschlafenen Stunden hievt er sich mit Hilfe eines Seils in den Rollstuhl. Dessen Elektromotor schiebt ihn, begleitet von leisem Summen, Richtung Toilette.
Die alten Männer, deren Arbeitgeber er früher einmal war, nennen ihn noch immer respektvoll »Whizzer«. Am Nachmittag trudeln sie bei ihm ein, um ihm Gesellschaft zu leisten, um das bisschen Klatsch und Tratsch umzuwälzen, um gemütlich bei Kaffee und Bier in den Fernseher zu starren, um zu reden – »oder auch nicht«. Hauptsache, »die Zeit verging«.
In den letzten Tagen des Hochsommers gibt es eine schöne Überraschung: richtig neuen Gesprächsstoff!
Ehe die Sensation – Lillian legt sich mit Blackway an! – leibhaftig bei Whizzers Clique eintrifft, muss Sheriff Ripley Wingate sie pflichtgemäß verwalten. Lillian, jünger, weiblicher und attraktiver als alles andere, was das Kaff zu bieten hat, erwartet ihn schon zum Dienstantritt, wofür sie auf dem Parkplatz hinter dem Gerichtsgebäude übernachtet hat. Die corpora delicti kann sie somit gleich vorweisen. Es handelt sich um das zertrümmerte hintere Seitenfenster sowie ein Messer und ein pelziges Etwas auf der Rückbank ihres heruntergekommenen Wagens. Im Büro trägt sie dem Hüter des Gesetzes vor, was geschehen ist.
Seit gut zehn Tagen werde sie beobachtet, verfolgt und bedroht, und zwar von Blackway. Jetzt habe er ihr Autofenster eingeschlagen und ihrer Katze Annabelle die Kehle durchgeschnitten. Sie müsse nun um ihr Leben fürchten und wünsche Polizeischutz, fordert sie resolut. Ob sie Blackway denn auf frischer Tat erwischt habe? Das nicht, aber man kenne den Kerl ja im Allgemeinen. Alle im Ort fürchteten sich doch vor ihm. Wer anders als Blackway könne ihr das angetan haben?
Verständnisvoll geht der Sheriff auf jegliche Gefühlsnot ein, die die junge Frau ihm mit großer Entschiedenheit vorträgt. Doch leider, versucht er ihr zu erklären, könne er so gar nichts für sie tun. Eine Festnahme, wie Lillian sie sich vorstellt, geht schon gleich gar nicht. »Für etwas, das er vorhat, kann ich ihn nicht festnehmen. [...] So was wäre gegen das Gesetz.«
Mit der pragmatischen Lösung, die Sheriff Wingate vorschlägt, landet er bei Lillian freilich auf dem völlig falschen Fuße. Wo sie doch nicht aus der Gegend sei und niemanden kenne, könne sie doch einfach wegziehen. Als ob abhauen, wenn man gar nichts getan hat, eine vernünftigere Lösung wäre.
Im Übrigen kennt Lillian durchaus jemanden aus der Gegend. Nur wegen Kevin ist sie schließlich hiergeblieben, anstatt nur durchzureisen. Doch vor kurzem hat sich Kevin aus dem Staub gemacht, nachdem er eine heftige Auseinandersetzung gehabt hatte – mit Blackway ...
Was tun zwischen Ungesetzlichkeit und Feigheit? Einen letzten Rat hält der Sheriff noch bereit. Lillian könne sich ja mal bei all den Männern in der ehemaligen Fabrik umhören. Whizzer zum Beispiel kenne Blackway noch aus alten Zeiten, in denen sie miteinander zu tun hatten. Und nach Scotty solle sie sich erkundigen, der könne in der Sache bestimmt weiterhelfen.
Indem Lillian nun auf dem Fabrikhof vorfährt, den staunenden Veteranen sich und ihr Anliegen vorstellt, verbinden sich die beiden Anfangskapitel. Nach langem Palaver, das Lillians Geduld bis an die Grenzen strapaziert, haben die Senioren eine Spezialeinheit für sie auf die Beine gestellt. Das Team besteht aus »Nate the Grate«, einer Aushilfskraft fürs Grobe, die gerade Betonblöcke ablädt, und dem klapprigen alten Lester, der die Gegend kennt, wo sich Blackway aufhalten könnte.
Bleibt Lillian eine Alternative? Nein. Furchtlos wie sie ist, zieht sie also mit dem bärenstarken, aber leicht beschränkten Nate, der kein anderes Wort als »Yo« hervorbringt, und Lester mit dem steifen Bein, der jedoch jede Menge Tricks auf Lager haben soll, los, um es mit dem geheimnisvollen Waldmenschen Blackway aufzunehmen.
Wie sich die drei in den finsteren Forsten Neuenglands schlagen und den bösen Blackway im Dickicht aufspüren, das ist der spannendere und düsterere Handlungsstrang von Castle Freemans etwas comichaftem Krimi »Go With Me« aus dem Jahr 2009, den Dirk van Gunsteren übersetzt hat (Die englische Originalversion ist offenbar schwer erhältlich.). Mindestens ebenso gut gefällt mir aber, was zwischen den Episoden aus Whizzers Büro zu uns dringt. Da treten die inzwischen durch die unerhörten Ereignisse aufgekratzten Senioren ohne Punkt und Komma breit, was ihnen gerade zu Ohren, vor Augen oder in den Sinn gekommen ist. Highschool-Mädchen, beispielsweise, »haben alle dasselbe an: obenrum ein kurzes Oberteil mit Spaghettiträgern, dann kommt der Bauchnabel und dann die knallenge Jeans. Um so was zu sehen, musste man früher Geld bezahlen«. Und wir sitzen quasi mit am Tisch und dürfen solche Weisheiten provinziellen amerikanischen Zeitgeists als Zugabe genießen.