Nicht mit Giorgio!
Roccalba hat alles, was ein italienisches Landstädtchen anziehend macht. An der Spitze des ›Stiefels‹, auf dem sich nach Süden hin verjüngenden Landstreifen Kalabriens, thront es auf einem Hügel. Im Osten glitzert in der Ferne das Ionische, im Westen das Tyrrhenische Meer. Wenn im Sommer Land und Menschen der Gluthitze erliegen, spenden die verwinkelten Gassen Schatten. Die Feigen sind überreif, die Granatäpfel platzen auf, die Renekloden werden geerntet, die Zikaden schnarren unaufhörlich in den Olivenbäumen. Über allem liegt der Duft der Bergamotte. Die lokale Küche kann aus einem Füllhorn bester Produkte von Mutter Natur und aus Menschenhand schöpfen: Gemüse von Auberginen bis Zucchini, Kräuter, Provola- und Ricotta-Käse, Olivenöl, Pasta, zartes Fleisch und frischer Fisch, Wein und Obst ...
Aber nicht jeden begeistert das Traumziel. 2581 Kilometer Kolonnenfahrt müssen die Heumanns aus Hamburg zu Beginn der Sommerferien absolvieren und sich zum Abschluss über endlose Kurven hinaufschrauben, dass es Sohn Florian, dem Ich-Erzähler, ganz schlecht wird. Danach folgt für ihn viel Langeweile. Vater Klaus, PR-Abteilungsleiter einer Bank, erträgt die Wochen, indem er der feucht-schwülen Hitze sein professionelles Lächeln entgegensetzt und mitspielt, so gut es geht. Mutter Rosanna hingegen wird umso euphorischer, je näher sie ihrer lange entbehrten Heimat kommt: »Hast du jemals einen so weiten Himmel gesehen? ... In der Nacht ist er ein einziges, endloses Sternenmeer.«
Hier oben im Dorf »zwischen zwei Meeren« leben Rosannas Eltern Giorgio und Patrizia Bellusci, ihre Schwester Elsa mit Familie und viele Kindheitsfreunde. Giorgio ist Metzger und Bauer, hat auch eine Schafherde und ein paar Rinder. Der Stolz der Familie liegt ein Stück außerhalb von Roccalba zwischen Steineichen, hohem Dornengestrüpp und wilden Feigen versteckt. Der Ruine des »Fondaco del Fico« sieht man kaum mehr an, dass das einst ein in ganz Kalabrien gerühmtes Gasthaus war, dessen Historie womöglich bis auf Cicero zurückgeht. In jedem Fall machten Durchreisende aus Nord und Süd, West und Ost hier gern Station, darunter viel Prominenz. Im Jahr 1835 etwa legte Alexandre Dumas nebst Hund Milord auf seiner Reise durch Italien hier eine Rast ein. Während er in einem ledergebundenen Büchlein seine Beobachtungen notierte, porträtierte sein Begleiter, der Landschaftsmaler Godefroy Jadin, den properen Wirt Gioacchino Bellusci und seine Frau – und überließ ihm sogar die Zeichnung. Als die Fremden weitergereist waren, fand Giorgios Urahn unter dem Blatt auch noch das Notizbuch, das der Schriftsteller vergessen hatte. Erdbeben, Sintfluten, Feuersbrünste und die Wirren der italienischen Einigung zerstörten das Haus, doch die beiden Gegenstände überstanden drei Generationswechsel. »Wie die Reliquien eines Heiligen« hütet Giorgio die Symbole einer ruhmreichen Vergangenheit in einem intarsienverzierten Holzkästchen, und den verfallenen Fondaco liebt er »wie ein Familienmitglied«.
»Was wusste ich schon von ihm?« Der erste Satz von Carmine Abates Roman »Tra due mari« (Esther Hansen hat ihn übersetzt) begründet das distanzierte Verhältnis des sechsjährigen Florian zu seinem Großvater. Die liebevolle Anrede »Nonno« kommt ihm nicht über die Lippen. Man begegnet sich, wenn Nonna Patrizia wieder köstlich gekocht hat, ansonsten wirkt der Patriarch desinteressiert an seinem Enkel, strahlt jedenfalls keine Herzenswärme aus. Im Gegenteil; selbst seinen Schwiegersohn Bruno demütigt er derb und lauthals.
Von einem Tag auf den anderen verschwindet der Großvater. Mutter erklärt Florian, er habe im Norden Italiens besser bezahlte Arbeit gefunden. Doch von dort kommt keine Post, kein Anruf; der ohnehin dünne Beziehungsfaden bricht für ein paar Jahre vollständig ab. In Florian entbrennt »eine zornige Gleichgültigkeit ... und ich sagte mir, dass er mich null interessierte, weil er sich für mich noch weniger als null interessierte«.
Doch was wusste Florian schon von ihm? Damals war er noch viel zu jung, um die drei Dinge zu begreifen, die Giorgio Bellusci wirklich bewegen. Das eine hat mit Respekt, Tradition und Kontinuität zu tun, das zweite mit Zivilcourage, das dritte mit Gerechtigkeit, und alle drei verlangen, dass Giorgio seiner Verantwortung gerecht wird.
(1) Giorgio ist fest entschlossen, den »Fondaco del Fico« in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Als modernes Hotel mit Restaurant und Pool soll das Erbstück wieder zu einer Attraktion werden, wie seine Vorfahren es über Jahrhunderte vorgemacht haben. Viele belächeln den Traum, einige untergraben ihn, aber Giorgio bleibt am Ball.
Kaum ist das Bauvorhaben genehmigt, finden Giorgios Viehhüter zehn seiner Schafe und zwei Hirtenhunde mit aufgeschlitzten Kehlen am Weidezaun aufgespießt. Die Botschaft ist unmissverständlich (»Ihr habt unseren Segen, unseren Schutz.«), der Absender klar (»Wir wissen alles über dich ... Ihr seid in guten Händen.«), die weitere Entwicklung absehbar (Bullige Besucher fordern »eine kleine Rate jeden letzten Sonntag im Monat«.). Die Strategie hat Tradition, das Repertoire der Bedrohung umfasst viele Greuel von abgeholzten Rebstöcken und Olivenbäumen über gesprengte Rohbauten bis zu körperlichen Versehrungen.
(2) Lässt Giorgio sich einschüchtern? Erst scheint es, als ob er einknicke. Er erstattet keine Anzeige und spielt das Geschehene im Dorf herunter. Schweigen – das ist auch die erste Spielregel der 'Ndrangheta. Zahlen wäre die zweite, aber nicht für Giorgio Bellusci. Am Morgen des Zahltags fällt er seine Entscheidung. Als am Abend der Geldeintreiber den Laden betritt, packt er ihn entschlossen, rammt ihm mit der routinierten Präzision und Kraft seines Handwerks einen Stahlhaken zwischen Hals und Kinn und hängt ihn an die weiße Kachelwand hinter der Theke.
(3) Der Preis für die tollkühne Aktion sind acht Lebensjahre im Gefängnis – und acht Jahre Funkstille. Ob Rosanna sich für die Tat ihres Vaters oder die Strafe schämt oder die Konsequenzen fürchtet, bleibt offen; die Wahrheit bringt sie ihrem Sohn gegenüber jedenfalls nicht über die Lippen. Erst als Florian fast siebzehn ist, kommt die Zeit, ihm zu berichten, wo Giorgio die Jahre verbracht hat und warum. Rosanna bittet Florian, kurz vor Weihnachten mit ihr nach Kalabrien zu fliegen, um Großvater nach seiner Entlassung ein ganz besonderes Fest zu bereiten.
Daraus wird ein längerer Aufenthalt. Unbeirrt nimmt Großvater sein Bauprojekt wieder auf – und bindet Florian ein, denn er soll diesen Traum mit ihm verwirklichen und später fortführen. Endlich findet Florian seine familiären Wurzeln, seine Identität, seine Heimat und seine Liebe ...
Dieser schöne Roman könnte wegen seiner sinnenfrohen Schilderungen von Landschaft und Menschen glatt als Auftragswerk des Tourismusverbandes Kalabrien missverstanden werden. In Wirklichkeit ist er ein ziemlich aufwändig durchkomponiertes Gewebe aus Reisen in Raum und Zeit, durch die Geschichte zweier sehr verschiedener Familien und eines Landstrichs. Die Erzählung verbindet die Selbstfindung des heranwachsenden Florian mit der Hommage an einen starrköpfigen Kämpfer, der weiß, was er zu tun hat und den Preis dafür zu zahlen bereit ist. Abates Stil ist angenehm eingängig und unprätentiös sinnlich, am Alltag orientiert, aber niemals platt.
Jeder weiß, dass die Mafia nichts vergisst und ihr Feind am Ende die Zeche teuer bezahlen muss. Wenn Giorgio Bellusci dieser schwer fassbaren Bedrohung gegenüber steht, bricht aus seinen Augen »ein unbändiges, stetes Funkeln hervor, wie bei einem Pferd, das zum wilden Galopp ansetzt«. Er muss noch einige schwere Schläge verkraften, findet aber überraschende Unterstützung. Gewinnen kann er dennoch nicht, aber er geht ungebrochen aus dem Ring. Nach vielen überwiegend heiteren Seiten verweht schließlich der Duft der Bergamotte und überlässt uns der Melancholie der Desillusionierung.
Carmine Abate (1954 in der Provinz Crotone, am ›Ballen‹ des Stiefels und nur wenig östlich vom Schauplatz seines Romans geboren) hat nach seinem Studium als Lehrer für Gastarbeiterkinder in Hamburg gearbeitet, wo sein Vater lebte. Die Themen Migration und Kulturunterschiede hat er zum Gegenstand etlicher Erzählungen, Romane und Essays gemacht, seit er 1984 mit der Schriftstellerei begann (»Den Koffer und weg«, »Die Germanesi« ). 2009 erhielt er den Premio Letterario Nazionale Tropea für »Gli anni veloci« , 2012 den Premio Campiello für »La collina del vento« (»Der Hügel des Windes« ).
Fiktion und Wirklichkeit liegen bei ihm nah beieinander. Das schöne Roccalba ist ein fiktiver Ort, aber den »Fondaco del Fico« hat es in der Gegend wirklich gegeben. Tatsächlich war die Herberge weithin bekannt und geschätzt, wie viele Erwähnungen in Reiseberichten belegen. Mutter Rosanna ist stolz darauf, sie alle gelesen zu haben, und über eine von ihnen hat sie sogar ihre Examensarbeit verfasst. Carmine Abate wiederum wurde zu diesem Roman durch einen Aufsatz angeregt, der ihm rein zufällig in die Hände fiel, »Il Fondaco del Fico« von Vito Teti (den natürlich auch Rosanna kennt ...). Er folgte den Pfaden der Reisenden »tra i due mari«, fand zwar keinen Stein mehr von dem Gebäude, wohl aber dessen Aura, und die hat er in seinem Roman ganz wunderbar gefasst.