Der schwarze Schmetterling
"Marina sagte einmal zu mir, wir erinnerten uns nur an das, was nie geschehen sei" (S. 9) – so beginnt der Erzähler den Roman. Fast am Ende wiederholt er diesen Ausspruch – jetzt im Indikativ: "Wir erinnern uns nur an das, was nie geschehen ist" (S. 319) – er weiß nun, dass Marina Recht hatte ...
Der 15-jährige Óscar besucht ein Internat in Barcelona. Am späten Nachmittag, in seiner Freizeit, zieht es ihn hinaus in die Umgebung. Auf einem seiner Streifzüge steht er plötzlich vor einem schmiedeeisernen Tor. In einem verwunschenen Garten mit Brunnen und Statuen, die im Dunkeln wie steinerne Engel auf ihn wirken, entdeckt er ein marodes Haus, das bessere Zeiten gesehen haben muss. Über die Veranda dringt er ins Innere – und vernimmt eine wunderschöne Stimme, die ihn hypnotisch anzieht. Die entzündeten Kandelaber tauchen die Räume in diffuses Licht und verstärken seine unheimlichen Gefühle. Auf einem alten Grammophon dreht sich eine Schallplatte. Vor einem Kamin steht ein riesiger Sessel, darüber prangt ein Ölgemälde mit dem Porträt einer sehr hübschen Frau. Dieses Ambiente nimmt Óscar gefangen. Als sich plötzlich eine Gestalt aus dem Sessel erhebt, stürzt er entsetzt aus dem Haus. Erst in seinem Internatszimmer kommt er zur Ruhe – und stellt fest, dass er noch immer die goldene Taschenuhr in Händen hält, die er vom Tisch mitgenommen hatte.
Natürlich bringt er die Uhr zurück und lernt Germán, von Krankheit gezeichnet, und seine Tochter Marina kennen, die so alt ist wie Óscar. Während Germán ihn liebenswürdig empfängt, ist das Mädchen wütend und abweisend zu diesem "Amateuruhrendieb" (S. 33). Doch es entwickelt sich eine Freundschaft; nach und nach werden die Beiden für Óscar eine zweite Familie und Marina seine beste Vertraute. Mit ihr wird er in die geheimnisvolle, rätselhafte Geschichte des berühmten Liebespaares Michael Kolwenik und Ewa Irinowa verwickelt. Kolwenik war einer der reichsten Männer Barcelonas, ehe er auf dem Höhepunkt seiner Karriere fast bankrott ging. Er war dem Untergang geweiht – aber warum? Bald stecken Marina und Óscar unabwendbar in einem grauenvollen Abenteuer: Kolweniks Geheimnis übersteigt bei weitem ihre (und des Lesers) Vorstellungskraft.
Sie laufen durch die Altstadtgassen Barcelonas, folgen Inspektor Florián, der schon lange an diesem mysteriösen Fall arbeitete, in die unterirdische Kanalisation. Dem unerträglichen Gestank dieser Kloake ausgesetzt kriechen ihnen undefinierbaren Wesen, Abarten der Natur, aus dem Katalog der Hölle entstiegen, entgegen. Alle tragen ein Brandmal auf ihrer Stirn: einen schwarzen Schmetterling. Marina und Óscar geraten in Lebensgefahr, sie sind dem Geheimnis Kolweniks, das ihre und die des Lesers Vorstellungskraft bei weitem übersteigt, zu nahe gekommen.
Dies ist eine der düstersten, furchteinflößendsten Horrorgeschichten, die ich je gelesen habe – und gleichzeitig die faszinierendste Liebesgeschichte. Ganz zart und sanft entsteht aus enger Freundschaft ein kleines Pflänzchen Liebe zwischen Óscar und Marina. Sensibel und verletzlich, gibt Marina sich nach außen in eigenwilliger Härte; sie verbirgt etwas, das Óskar erst am Schluss offenbaren werden wird.
Carlos Ruis Zafón ist ein Sprachjongleur, der mit reichstem Vokabular den Leser begeistern kann. Grauenvollste Charaktere kann er genauso gut zeichnen wie liebenswerte; mit seiner Kunst haucht er ihnen spürbares Leben ein. Seine außergewöhnliche Phantasie lässt Handlungsorte und Szenarien entstehen, die so überwältigend und packend beschrieben sind, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen kann. Man ist von all den Eindrücken magisch verzaubert.
Carlos Ruis Zafón ist für mich nach dem Roman "Marina" der beeindruckendste Märchenerzähler der heutigen Zeit.