Mariae wunderbare Erdenfahrt
Für einen nüchternen Realisten gibt es keine unerklärlichen Phänomene. Außerirdische, die in Ufos auf der Erde landen? Nichts als Sinnestäuschungen. – Allein mit Geisteskraft Gabeln biegen? Scharlatanerei und Medienhype. – Wunderheiler? Placebo-Effekt. – Blut weinende Heiligenfiguren, intime Marienerscheinungen? Massenhysterie und Wunschdenken.
Religiöse Menschen lassen hingegen einen Spielraum für das Wirken einer höheren Macht, deren Existenz der Realist ebenso wenig zu erfassen in der Lage ist wie deren Handlungsweise, die keinen Naturgesetzen unterworfen ist.
Nun hat der isländische Autor Bjarni Bjarnason einen Roman verfasst, der auf irrwitzige Weise die antipodischen Sichtweisen zusammenbringt, das Mystische erdet und das Irdische überhöht. Und das stellt er ausgerechnet mit der weiblichen Zentralfigur des Christentums an, der geheimnisvollen Überfrau schlechthin: Maria, Jungfrau und doch Mutter, gen Himmel aufgefahren wie ihr Sohn, der auch der Sohn Gottes ist, makellos und entrückt, seit bald zwei Jahrtausenden verehrt. Der Titel lässt das Buch wie ein frommes Traktat aus einem anderen Jahrhundert erscheinen: »Die Rückkehr der Jungfrau Maria« (Das Original »Endurkoma Maríu« erschien schon 1996; Tina Flecken hat es jetzt für uns übersetzt) – aber mitnichten:
Im Gegensatz zu den bekannten Fällen, in denen sich Maria recht selektiv und rein spirituell offenbarte (z.B. 1917 in Fatima, 1989 auf den Philippinen), tritt sie bei Bjarnason mitten hinein ins moderne Leben, wird durch und durch menschlich, ja fleischlich – eine Frau unserer Zeit. (Das Cover zeigt dazu sehr passend den Ausschnitt eines grellbunten Gemäldes von Norbert Bisky, Vertreter der Leipziger Schule.)
Die schräge Geschichte nimmt ihren Anfang bei dem Theologieprofessor Johannes von Blomsterfeld und seinen Traumvisionen, »dass ein solcher Erlöser bereits geboren worden wäre und irgendwo unter uns lebe«. Dass er seine unorthodoxe Sicht in einem Werk »Die Rückkehr der Jungfrau Maria« schriftlich niederlegte, brachte ihm eine Verurteilung wegen Verbreitung von Irrlehren sowie den Verweis von der Uni ein.
Seinen Enkel Michael (den Ich-Erzähler) erzieht er zu einem kritischen, aufgeklärten jungen Mann. Die Bibliothek, die natürlich auch die Apokryphen umfasst, wird durch die reine »Logik wissenschaftlichen Denkens« ersetzt. Nach Großvaters angekündigtem Tod (»ich werde nicht sterben, bevor du siebzehn bist«) verlässt Michael das Haus, arbeitet bei einem Zirkus und macht sich später in dieser Branche selbstständig. Bei seinem »Zirkus der göttlichen Ordnung« ist alles in einen einzigen Universalschrank eingebaut, und mit diesem Mini-Wanderunternehmen tingelt er durch die Gegend. Dabei begegnet er einer merkwürdigen jungen Frau, hilft ihr aus der Patsche und macht sie zu seiner Assistentin.
Das ist die wiedergekehrte Jungfrau Maria. Sie hat seit ihrer Pubertät schon bewegte Jahre hinter sich. Beispielsweise hat sie ihr Spiegelbild verloren. Trost und eine Erklärung findet sie bei ihrem Vater, der sie innigst liebt: »Du bist die schönste Frau auf der ganzen Welt … Und die vollkommene Form, die in jeglicher Hinsicht eben und gleichmäßig ist, kann kein Spiegelbild haben.«
Wie kaum anders zu erwarten, studiert Maria Theologie, und zwar an der Uni des einstigen Theologieprofessors von Blomsterfeld. Sie vollbringt Außergewöhnliches und stellt mit nur 21 Jahren ihre 200-Seiten-Doktorarbeit zum Thema »Liebe« fertig. Doch kaum hat sie die Schlussworte formuliert – »Gott ist Liebe, und frei zu sein bedeutet, ihm verpflichtet zu sein« –, da verschwimmen sie vor ihren Augen, und Buchstabe für Buchstabe, Zeile für Zeile, Seite für Seite lösen sich in Nichts auf. Nicht genug: auch Tagebücher, Akten, Pass, Immatrikulation und alle anderen Dokumente sind nur noch leere Makulatur – Maria ist eine Frau ohne Identität, ohne Existenz.
Beim Rigorosum in Anwesenheit vieler Studenten und Professoren wendet sich das Blatt gegen sie. Nach dem Werk »Die Rückkehr der Jungfrau Maria« befragt, deutet sie, ohne es gelesen zu haben, an, den Inhalt zu kennen. In der emotional aufgeheizten Stimmung des Hörsaals unterstellt man ihr nun: »Wollen Sie uns vielleicht weismachen, Sie seien die Reinkarnation der Jungfrau Maria?« Sie wird als Betrügerin, die sich an erschlichenen Stipendien bereichert hat, bezeichnet und ergreift die Flucht. Die Hetzjagd auf sie hat begonnen …
Dabei wird ihr ein neuerliches unerklärliches Phänomen hinderlich: Ihre Kleider werden zeitweise transparent. Ausgerechnet auf einem Bahnsteig passiert das. Jeder der fremden Männer möchte die wunderschöne, vermeintlich nackte Frau berühren. Der Ich-Erzähler beobachtet das sich bedrohlich zuspitzende Geschehen, eilt Maria zu Hilfe, legt ihr seinen Zauberumhang um und nimmt sie mit sich in seinen Wanderzirkus.
Der bis hierher ausgelegte bunte Teppich an Ideen und Fragen – Wer ist Maria? Wie kann sie ohne Identität leben? Ist sie ein menschliches Wesen? Wie geht die Öffentlichkeit mit so einem Phänomen um? – ist höchst anregend, mit überschäumender Fantasie und poetischen Preziosen gewebt und mit vielen theologischen und philosophischen Fäden durchsetzt.
Statt das Mystische zu entmystifizieren, Unerklärliches auf platte Weise doch noch aufzulösen oder aber alles endgültig ins Absurde zu überziehen, schwenkt der Autor auf eine weitere Schiene um, die man bei dieser Protagonistin nun wirklich am allerwenigsten erwartet hätte: prallen Sex. So erreicht der Roman seinen Höhepunkt, als sich Maria und Michael lieben, und das tun sie auf dem Hochseil – wahrscheinlich der skurrilste Liebesakt der Literatur überhaupt. Und der unersättliche Autor setzt noch eins drauf: Um die Vereinigung mit Maria zu steigern, baut Michael das Gerät »Sexhilfsmittel der Unendlichkeit«; Ziel: »Du wirst ich, ich werde du, wir werden alles, ein gewaltiges, geschlechtsloses, sexuelles Wesen wie die Sonne.« Ganz schön abgefahren, dieser Versuch, die Liebe zu überhöhen …
Unstrittig wunderschön (im wahrsten Wortsinn) sind Marias lehrreiche Fabeln über die Drossel, die immer wieder Rat im Wald bei einer Eule sucht. Sie möchte so gern »an den allwissenden Gott glauben«. Aber sie lebt trotz des Rates der Eule weiter »wie damals, bevor du zu mir gekommen bist«, und stirbt schließlich, »ohne etwas zu wissen und ohne an etwas zu glauben«, ja »in einer dunkleren Welt … als in der, in die sie hineingeboren war«.
Fazit: Das eigenwillige, traditionsbeladene Sujet, anspruchsvoll, anspielungsreich und ästhetisch kühn umgesetzt, könnte auch den ungläubigen Thomas reizen. Doch die groteske Zuspitzung sowohl des Mystischen als auch des Irdischen (nicht zuletzt die drastische Konkretisierung der Fleischwerdung) wird manchen rätselnd oder auch abgeschreckt zurücklassen. Bekehren konnte mich »Die Rückkehr der Jungfrau« auch nicht.