Ein Paradies zum Weglaufen
Sie brauchen sich um nichts mehr zu kümmern. Die Stiftung sorgt für alles. Sie arbeiten ehrenamtlich und erhalten dafür Punkte, die auf Ihrer Di-Card gespeichert werden. Damit können Sie bei Super-K, Superette, Konsomarkt oder bei Lieferservices Fertignahrung in Komplettboxen beziehen. Für eine Dim-Sum-Box, ein sensationelles chinesisches Menü, werden beispielsweise 50 Punkte abgebucht. Die Stiftung stellt jedem Haushalt eine Mikrowelle und eine Konsole zur Verfügung. Mit diesen wenigen Elektrogeräten leben Sie ökonomisch und mit minimierten Verbrauchswerten. Mit tränenden Augen beim Zwiebelschneiden, Ekel bei der Geflügel- oder Fischzubereitung, lästigem Gemüseputzen oder auch nur dem Säubern der Küche nach dem Kochen braucht sich keiner mehr herumzuschlagen.
Wenn Sie Kinder haben, so leben Sie im elften Distrikt. Der bietet familienfreundliche Einrichtungen wie Kindercenter mit besonderen Spielraumkonzepten. Im siebten Distrikt dagegen gibt es weder Kinder noch Tiere, auch keine Keime oder Mikroorganismen, denn alles wurde unter Hygienegesichtspunkten optimiert.
Ein Hort der Sicherheit? Ein komfortables Paradies?
Wir befinden uns in der Zeit nach der Weltwirtschaftskrise, in deren Folge die Welt umgebaut wurde. Die Menschen, die hier leben, haben die Agrarreform und grauenhafte todbringende Epidemien wie die Leptospirose und die Listeriose hinter sich gebracht.
Birgit Vanderbekes neues Buch spielt in einem Szenario aus einem bisschen Science-Fiction mit etwas Apokalypse, ohne dass dieses setting jedoch der eigentliche Gegenstand würde. Trotz sanfter Anklänge an Brave New World sind wir weit weg von Aldous Huxleys differenziertem Universum. "Die Frau mit dem Hund" begegnet uns vielmehr in einem eher heiter-besinnlichen Roman. Sie heißt Pola, ihr kleiner Hund Zsazsa, und sie haben es geschafft, durch den Absperrzaun herein in die Stadt zu klettern - in die Zivilisation. Die vorstädtische Pampa, aus der sie entronnen sind, steckt voller Gefahren. Dort grassieren Seuchen und Krankheiten; kriminelle Banden marodieren, prügeln, schießen, fackeln Häuser ab.
Pola ist von dort geflohen, weil sie schwanger ist. Jetzt hat sie Hunger und Durst und sitzt Schutz suchend in einem Hauseingang der ihr fremden neuen Welt. Zsazsa, das stinkende Etwas, hat sie in ihren lumpigen Mantel gehüllt. Wem immer die beiden hier begegnen sollten, sie werden nicht nur Abscheu, sondern auch Angst vor längst verbannten Krankheiten auslösen.
Eine solche Bewohnerin des sterilen Paradieses ist die 25-jährige Jule, deren Wohnung über das Treppenhaus zu erreichen ist, wo Pola und Zsazsa kauern.
Nach dem ersten verstörenden Kennenlernen schleppen die beiden etliche Probleme ein und bringen dadurch Jules und später auch deren Nachbar Timons langweiliges Alltagseinerlei restlos aus den Fugen. Timon kümmert sich rührend um Pola und versteckt sie auf dem Dachboden. Er hat selber eine Zeitlang auf der anderen Seite gelebt, und viele verschüttete Erinnerungen in seinem Gedächtnis werden nun durch Pola wieder wach gerufen. Ist die Welt draußen nicht viel erstrebenswerter? Dort gibt es Gefühle, Liebe, Lust am prallen Leben, zu dessen Fülle auch Verluste, Niederlagen und Gefahren gehören - Risiken und Nebenwirkungen, die seine Zivilisation abgeschafft hat. Mit Pola wird Timon die verlorenen Seiten des Lebens wieder entdecken und am Ende die dekontaminierte, steril geschönte, künstliche Stadt und ihr sich endlos wiederholendes Soft-Unterhaltungsprogramm hinter sich lassen.
Wer Aldous Huxley gelesen hat, wird enttäuscht sein; wer "Die Frau mit dem Hund" gelesen hat und die Geschichte zu platt-plakativ fand, der sollte Aldous Huxley lesen.