Der Terrorismus, ein Krebsgeschwür
Nach 24 Jahren Haft wird Jörg, Ex-Terrorist der siebziger Jahre, auf Grund seines Gnadengesuchs vorzeitig entlassen. Seine Schwester Christiane holt ihn ab und nimmt ihn mit nach Brandenburg zu ihrer Freundin Margarete. In einem verfallenen Landgut möchten sie ein gemeinsames Wochenende mit ein paar Freunden von früher verbringen.
Aus New York reist der Journalist Henner an. Die Lehrerin Ilse ist das frühere "Milchmädchen". Der Unternehmer Ulrich bringt Frau Ingeborg und Tochter Dorle mit. Die Bischöfin Karin kommt mit ihrem älteren Ehemann Eberhard. Andreas ist Jörgs Rechtsanwalt und hat ihm immer juristischen Beistand geleistet.
Die Zeit der RAF ist für sie alle ganz weit weg, vergessen, abgeschüttelt. Sie waren nie Aktivisten, eher Sympathisanten. Mit 60 Jahren haben sie als Besserverdienende ausgesorgt.
Am gemeinsamen Tisch beginnt man Geplänkel, tauscht Bilder aus. Nach dem von Karin gesprochenen Tischgebet beginnen Spott und Diskussionen. Die Harmonie bröckelt.
Später erscheint Marko Hahn, für den die Revolution immer weiter gelebt hat. Zur Erneuerung des Kampfes gegen das System will er Jörg als Vorbild benutzen. Nun kann keiner mehr der Konfrontation mit seiner Vergangenheit und den Lebensträumen ausweichen. Sie alle wissen, dass Jörg vier Menschen erschossen hat, und müssen sich fragen wofür, denn die Welt hat sich nicht verbessert. Jörg selber hat vieles vergessen und empfindet kein Mitleid mit den Opfern. Vielmehr interessiert ihn, wer ihn damals verriet, wer der Polizei den Hinweis gab, der zu seiner Verhaftung führte ...
Abgesehen davon, dass ich die unruhigen Jahre des RAF-Terrors selber erlebt habe, wurden in den letzten Jahren viele Dokumentationen und Spielfilme gedreht, die die damalige Zeit, das politische Klima, die Provokationen, die Entwicklung hin zur Gründung der terroristischen Vereinigung der RAF differenziert veranschaulichen. Die meisten prominenten Mitglieder sind mir geläufig, ihre Geiselnahmen, ihre Gewalt gegen unschuldige Opfer, die Flugzeugentführung, das Leid der Hinterbliebenen, der Prozess, die Sonderbehandlung der Inhaftierten im eigens gebauten Gefängnis Stammheim. Eigentlich ist alles Wichtige gesagt. Nicht wenige warnen schon vor der Gefahr der Mythisierung. Deshalb frage ich mich, ob Bernhard Schlinks Roman nicht zu spät kommt, noch gefragt sein wird.
Die literarische Höchstleistung, die man schon aus Schlinks anderen Romanen kennt (z.B. "Der Vorleser") , verwöhnt den anspruchsvollen Leser. Die Beschreibungen, die Charakteristiken der Protagonisten sind auf den Punkt gebracht. Die Diskussionen sind so echt und überzeugend, dass man glaubt, Jörg habe eine wahre Beziehung zur RAF gehabt. In die Handlung eingebunden sind historische Ereignisse wie der 11. September und die Rede des Bundespräsidenten, in der er das Gnadengesuch, dem er mit seiner Unterschrift stattgab, rechtfertigt.
Das Spannungsbogen beginnt mit einem leichten, gleichbleibenden Anstieg. Schwindelerregend verläuft er, als Schlink eine völlig unerwartete Person auftreten lässt. Voller Verachtung möchte sie abrechnen mit der Generation, die sich das Recht herausnahm, ihre Eltern eine Mördergeneration zu nennen, aber selber keinen Deut besser war.