Abschiedsfarben
von Bernhard Schlink
Neun spannende Geschichten, in denen gereifte ältere Herren und eine geschiedene Frau Episoden aus ihrem Leben erzählen, von unerfüllter Liebe, vor allem aber von verkannten Wegkreuzungen, Enttäuschungen und Schuld. Ihr Rückblick ist melancholisch, teils wehmütig, teils bitter, teils reuevoll.
Leben – eine Einbahnstraße
Ein apartes Wort genügt als Titel, um Thema und Stimmung dieser Erzählungen zu evozieren. Eine weitere Tönung fügt das Gemälde »Odalisque 11« von Mary Jane Ansell (2004) auf dem Cover hinzu – eine junge Dame, dem Betrachter abgewandt auf dem Bettrand sitzend, im Begriff, ihr weites, aufreizend rotes Nachtgewand abzulegen, ihre linke Schulter und ihr Rücken halb entblößt: Man darf in »Abschiedsfarben« sinnliche, erotisch inspirierte Geschichten erwarten. Es ist der dritte Erzählband des international anerkannten Schriftstellers Bernhard Schlink nach »Liebesfluchten« (2000) und »Sommerlügen« (2010) [› Rezension].
In neun Geschichten auf 230 Seiten erzählen gereifte, gebildete, kultivierte und wohlsituierte Männer und eine geschiedene Frau von Erfahrungen, die sie in ihrem Leben geprägt haben. Alt fühlen sie sich noch nicht, eher leiden sie unter Einsamkeit und ihrem unbefriedigten Bedürfnis nach Sinneslust. Wie kommt man an eine Frau, wenn das Aufsuchen der Öffentlichkeit nur als notwendiges Übel vollzogen wird? Man kennt natürlich die Standardempfehlungen, das Internet als Plattform zu nutzen, in einen Verein, einen Chor einzutreten, einen Yogakurs zu besuchen. Allein, »der Geruch nach menschlichem Schweiß und indischem Rauchwerk, die meditative Dosenmusik, das ergriffene ›Om‹ – ich kann’s nicht.«
Meist in dritter Person, weniger aus der Ich-Perspektive schauen die Herren voller Wehmut und Melancholie zurück auf ihr Leben. Was sie da vorzugsweise wahrnehmen, sind ihre eigenen Versäumnisse, die vertanen Chancen, Selbstbetrug, auch Schuld, und hernach martern sie sich mit der vergeblichen Sehnsucht, das Rad der Zeit zurückzudrehen, an einem Wendepunkt innezuhalten und anschließend einen anderen Weg einzuschlagen oder den schönen Augenblick intensiver auszukosten. Wer im vorgerückten Alter hätte derlei Besinnung nicht durchgemacht? Das verschafft beim Lesen Identifikations- und Solidaritätserlebnisse. Zwar schmeckt manche Geschichte nach individueller Biografie des 76-jährigen Autors, doch das weiter zu verfolgen bleibe Literaturwissenschaftlern vorbehalten und ist für den literarischen Wert irrelevant.
In gewohnt bewundernswerter Weise setzt Schlink sprachlich präzise um, wie die Erinnerungsprozesse um früheres Handeln, die Suche nach Antworten auf Sinnfragen (letzte Dinge eingeschlossen) bei seinen so abgeklärten wie feinfühligen Figuren zu späten Erkenntnissen führen, aber oft mehr Selbstmitleid als Selbstkritik evozieren. Dabei sind künstlerische Experimente nicht die Sache des einstigen hochrangigen Juristen. Die Prosa der vielfältigen Erzählungen überzeugt durch Klarheit und Prägnanz, die Handlungsverläufe durch Stringenz, Spannung und Dynamik.
Gleich die erste Geschichte (»Künstliche Intelligenz«) setzt die dunkle Tonlage, die alle weiteren Erzählungen mehr oder weniger dominant durchschwingen wird. Während der Ich-Erzähler über die Bedeutung von Beerdigungen als Hilfe beim Abschiednehmen nachsinnt, schweifen seine Gedanken ab. Ihn martert das schlechte Gewissen, seinen besten Freund einst an die Stasi verraten zu haben, dennoch ergeht er sich immer wieder in Rechtfertigungen seines Handelns.
In »Picknick mit Anna« erliegt der Erzähler dem Liebreiz eines heranwachsenden Mädchens. Seit sie ein Kind war, gab er ihr Nachhilfe und genoss ganz unschuldig ihre Nähe. Nach ihrem Abitur ist er überflüssig, nimmt aber weiter Anteil am Leben der hübschen jungen Frau, trotz mancher Zurückweisung und Demütigung. Als ihr ein feuriger Don Carlos den Hof macht, ist ihm bewusst, wie schlecht dieser Umgang für sie ist, und lässt dem verderblichen Schicksal dennoch seinen Lauf. Wie etliche der Geschichten ist dies ein kleiner Krimi, der Schuldfragen aufwirft, ohne ein Urteil zu fällen.
So auch »Geschwistermusik«, ein raffiniertes, eigentlich tieftrauriges Meisterstück. Darin läuft Philip, einem Musikhistoriker, Ü50, per Zufall eine ehemalige Klassenkameradin über den Weg (im Opernhaus, wo sonst?). Noch immer ist Susanne schön und apart. Schon zu Schulzeiten war sie umschwärmt. Aus bestem Hause, wusste sie sich hoheitsvoll zu bewegen, war klug, konnte »geschickt Gespräche zuspitzen und die anderen in Bösartigkeit und zur Verzweiflung treiben«. Rätselhafterweise zog sie ausgerechnet Philip, den Jungen aus dem Abseits einfacher Verhältnisse, »in ihren Kreis und an ihre Seite«, wo er sich im Familienkreis herzlich aufgenommen fühlte und eine intensive Freundschaft mit Susanne und ihrem Bruder Eduard (seit einem Unfall im Rollstuhl) erlebte. Nicht einmal ihm selbst ist so richtig klar, was ihn nach einem Jahr dazu trieb, ohne ein Wort des Abschieds nach Amerika zu fliehen. Das zufällige Wiedersehen lässt die alten Zeiten erwachen, mündet in eine erneute Einladung in Susannes Haus und ihre Aufforderung »Bleib über Nacht«. Doch die Erfüllung einer verpassten Jugendliebe bleibt aus, die Gefühle füreinander haben sich verändert, aber die erneute Nähe gibt Susanne die Möglichkeit, dem Vertrauten ein quälendes Geheimnis zu offenbaren.
Jede der »Abschiedsfarben« hat einen besonderen Plot, eine besondere dramatische Wendung, und die erzählten Lebenserfahrungen sind keine alltäglichen. So erzählt ein verantwortungsvoller Vater von seiner nicht leiblichen Tochter, die in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebt. Zur Vervollkommnung ihres Glücks ersehnen sich die beiden ein Kind. Doch kein medizinisches Verfahren führt zum Ziel. In der Folge nähert man sich, obwohl ja gar keine Blutsverwandtschaft besteht, dem Tabu des Inzests und den damit verbundenen Schuldfragen – ein literarischer Bogenschlag über Max Frisch (»Homo Faber«) bis zurück ins Alte Testament, der die Hoffnung lässt, dass »aus etwas Falschem etwas Richtiges werden« kann.
Die »Abschiedsfarben« sind gedämpft, und doch sind die Erzählungen durchaus flüssig, unterhaltsam und spannend zu lesen. Manchmal verdichtet sich der nüchterne Stil zu Poesie, an wenigen Stellen dampft gar Sinnlichkeit aus den Buchseiten, ohne aber zu Kitsch zu kondensieren. Dazu ist der Autor – wie seine Figuren – viel zu beherrscht. So erinnert sich der alte Professor nicht gänzlich unsentimental an Anna: »blonde Locken, rote Wangen, Lebenslust und Neugier … Ich habe ihren Geruch gerochen, den unvergleichlichen, unwiederbringlichen Mädchenduft nach Kind und Frau und frischen Früchten, dessen Versprechen einen um den Verstand bringt.« Aber ach, es ist zu spät. Im Rückblick verwehen die Eindrücke, und die Lebenslast legt sich schwer darüber.