Yoko
von Bernhard Aichner
Die Metzgerstochter Yoko weiß, wie Schlachten geht, aber lieber will sie Menschen Glück schenken, und das gelingt ihr auch. Bis ihr guter Wille sie in eine unheilvolle Situation manövriert. Gnadenlos übt sie Rache mit den Mitteln, die sie aus dem Effeff beherrscht. Aber ihre Gegner sind unerwartet mächtig.
Zerstörtes Glück
Kindheit und Jugend der jungen Frau, von der dieser Roman erzählt, verliefen unter recht ungewöhnlichen Umständen. Nach dem frühen Tod der Mutter hat ihr Vater, ein Metzger, sie alleine großgezogen. So ging sie schon als Kind in der Fleischerei ein und aus, lernte das Töten, Schlachten und Verarbeiten der Tierkörper. Zwar gehörte das Sterben zu ihrem Alltag, doch an den Geruch von Blut und Gärprozessen konnte sie sich nie gewöhnen.
Als der Vater stirbt, will sie, inzwischen fast dreißig Jahre alt, ihr Leben anders ausrichten. Obwohl sie »Yoko«, ihren exotischen Namen fernöstlichen Ursprungs, hasst, findet sie Gefallen an einer dazu passenden Geschäftsidee: Sie möchte Zettelchen mit selbst kreierten Spruchweisheiten beschreiben und in knusprige Teigtaschen einbacken. Zwei Jahre später steht die kleine Glückskeks-Manufaktur, die sie in den Räumen der ehemaligen Metzgerei aufgezogen hat, auf sicheren Füßen. Im eigenen Lieferwagen fährt sie ihre frischen Backwaren zu den Kunden, die vor allem zur asiatischen Gastronomie gehören.
Zu ihrem großen Unglück gerät sie bei dieser unschuldigen Tätigkeit zur falschen Zeit an den falschen Ort. Beim Hintereingang eines Chinarestaurants wird sie Zeugin, wie ein dort festgebundener kleiner Hund von zwei Männern misshandelt wird. Aus reinem Spaß am Quälen treten sie auf das Tier ein. Yokos natürliches Unrechtsbewusstsein treibt sie dazu, sich mutig in die Situation einzumischen. Sie ahnt nicht, dass sie dadurch ein Räderwerk in Gang setzt, das sich rasch ihrer Kontrolle entzieht und sie überrollen wird.
Die Männer fackeln nicht lange, packen die wehrlose Frau in den Lieferwagen, entführen sie in den Wald und missbrauchen sie dort. Das erlittene Leid wird noch dadurch verschlimmert, dass es ein Trauma wiederbelebt, das Yoko schon weit verdrängt hatte.
Der Hass, den die Tat in Yokos Gemüt auslöst, steigert sich übermäßig. Sie sinnt auf Rache, und schließlich wird das Opfer selbst zur Täterin. Yoko wendet an, was sie im Handwerk des Vaters erlernt hat, und keine Grenze kann ihr Einhalt gebieten, nicht einmal der Tod liebgewonnener Menschen. Sie muss ihren Feldzug fortführen, bis auch das letzte Ungeheuer beseitigt ist.
Doch ihre Gegner sind mehr als ein paar Nummern zu groß für sie. Es handelt sich um eine chinesische Triade, die jegliche Störung ihrer lukrativen Aktivitäten im Keim ersticken muss, wenn sie ihre Macht erhalten will.
Seit Bernhard Aichners 2010 erschienenem Debütroman »Die Schöne und der Tod« [› Rezension] hat sich der Autor literarisch fortentwickelt. Bewährte Eigenheiten seines trockenen Stils wie kurze, prägnante Sätze, Dialoge ohne Anführungszeichen und ohne Redeeinleitung hat er beibehalten, aber die Intensität der erschaffenen Atmosphäre hat er markant gesteigert. Den logisch stimmigen Plot entfaltet er in einer perfekt arrangierten Handlungsfolge, so dass das Lesetempo rasend Fahrt aufnimmt und das Kopfkino auf Hochtouren läuft. Geschickt gesetzte Cliffhanger und unerwartete Ereignisse binden uns von Seite zu Seite. Reizvoll sind die in Kursivdruck eingeschobenen Gedanken der Protagonistin mit möglichen Antworten ihres jeweiligen Gegenübers. Passend zum Milieu dieses blutigen Thrillers müssen sensible Naturen harte Bilder und Töne ertragen.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2024 aufgenommen.