Blum liebt, hasst, tötet und entsorgt
Brünhilde Blum verabscheut ihren altmodischen Vornamen. Bald wird sie nur noch kurz und bündig »Blum« heißen. Doch erst müssen ihre verhassten Eltern endlich Ruhe geben und sich mit dem Unvermeidlichen abfinden. Während »Blum« auf dem Deck des sanft schaukelnden Segelschiffes nackt in der Sonne brennt, kämpfen Hagen und Herta unten in den Wellen der Adria um ihr Leben, kratzen mit den Fingernägeln an der Bordwand, um Halt zu finden, schreien verzweifelt den Namen ihrer Tochter. Doch die Leiter wird hochgezogen bleiben, die beiden Siebzigjährigen werden entkräftet zurückbleiben und irgendwann als Wasserleichen bei Triest angetrieben werden.
Zwanzig Jahre zuvor suchten die kinderlosen Eheleute Blum Hände ringend einen Nachfolger für ihr Familienunternehmen in zweiter Generation, das älteste und renommierteste seiner Branche in Innsbruck. Ein Junge war nicht zur Adoption zu bekommen, aber ein Mädchen war immer noch besser als gar kein Kind. Da haben sie das kleine dreijährige Ding aus dem Kinderheim geholt, mit einem Namen aus ihrer Wagner-Welt versehen und aufgezogen »wie ein Haustier«, bis es endlich groß genug war, im Bestattungshaus Blum mit anzupacken wie ein Mann.
Schon mit sieben musste Brünhilde Leichen von Blut befreien, rasieren, anziehen. Bettelte sie unter Tränen, gewisse Arbeiten nicht tun zu müssen, drohten ihr »Strafe und Qual«. Hagen sah sich im Dienste ihrer Abhärtung gezwungen, sie zeitweise in eine kleine Holzkiste zu legen, deren Deckel er verschraubte.
Freundinnen hatte Brünhilde keine; welche Eltern schicken ihr Kind schon in eine Totenhalle zum Spielen? Schließlich wurden die Leichen zu ihren Gesprächs- und Spielkameraden.
All das wird jetzt ein Ende finden. Blum ist vierundzwanzig und voller Pläne. Sie wird Haus und Firma umkrempeln, alle Spuren der Eltern ausradieren. Die einzigen schönen Erinnerungen, die sie behalten wird, sind die alljährlichen unbeschwerten Sommerferien auf dem Schiff der Eltern bei Triest. Wenn die begeisterten Segler jetzt nach ihrem unbedachten Sprung in die Wellen bald ihre letzte Ruhe finden, ist sie vorbereitet. Im Geiste hat sie alle auf sie zukommenden Fragen und Antworten, alle Szenen durchgespielt. Der Filmvorspann läuft schon ab: Als in der Ferne ein kleines Segelboot auftaucht, winkt sie wie wild und schreit um Hilfe. Haltlos schluchzt sie dem fremden Skipper vor, dass ihre Eltern, während sie in der Sonne schlief und Musik hörte, spurlos verschwunden seien – ein wahrhaft »tragischer Unfall« ...
»Mein Name ist Mark. Ich bin Polizist, alles wird gut.« So hatte sich der sympathische, gut aussehende junge Mann vorgestellt, als er an Bord kletterte und Blum tröstete. Ein echter Traumprinz, stellt sich heraus, und zwei Jahre später heiratet sie ihn. Nach weiteren sechs Jahren ist sie immer noch rundum glücklich. Zwei kleine Töchter bereiten ihr täglich Freude. Zur Familie gehört inzwischen auch Marks Vater, ein pensionierter Kriminalkommissar und schon etwas hinfällig. Alle gemeinsam bewohnen die großzügig umgebaute Jugendstilvilla der Familie Blum. Das Bestattungsunternehmen läuft bestens. Blum hat in dem Bosnier Reza tatkräftige Unterstützung gefunden. Seine gesamte Familie war in den grausamen Kriegsjahren umgekommen, er floh nach Österreich, Mark erwischte ihn bei einem Überfall auf einen Geldautomaten, und statt ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten, brachte er ihn mit nach Hause.
In letzter Zeit wirkte Mark verschlossen, als wenn etwas an ihm nage. Blum winkt ihm an der Haustür nach, wie er auf dem Motorrad davonbraust. Plötzlich erfasst ihn ein schwarzer Rover, und während Mark an Ort und Stelle stirbt, macht sich der Autofahrer aus dem Staub. Das vollkommene Glück hat ein jähes Ende.
Blum ist am Boden zerstört, ihr Weiterleben ohne Sinn. Nur die beiden Kinder geben ihr Halt, und neben Karl und Reza steht ihr vor allem Marks Vorgesetzter und bester Freund Massimo hilfreich zur Seite. Er regelt alle amtlichen Angelegenheiten und übernimmt die Fahndung nach dem Unfallflüchtigen. Doch weder von ihm noch von dem auffälligen Auto gibt es irgendwelche Anhaltspunkte.
Als Blum in Marks Arbeitszimmer seine persönlichen Dinge entsorgt, erwartet sie eine Überraschung. Auf seinem Diktiergerät lauscht sie seiner Stimme, um sie für immer in sich aufzunehmen, doch sie spricht ganz beruhigend, ja geradezu liebevoll zu einer andern Frau: Dunja heißt sie ...
Hin- und hergeworfen zwischen Eifersucht, Schock und Wut über das, was sie da in zwanzig Dateien gespeichert findet, wird Blum in ein unfasslich grausames Verbrechen um Menschenraub, Missbrauch, Vergewaltigung und Tod hineingezogen. War Mark einer gefährlichen Sache auf der Spur? Musste er deshalb sterben? Blum nimmt die Sache in die eigenen Hände und wird den Mörder ihres geliebten Mannes ausfindig machen.
So entwickelt sich Blum zum Racheengel ohne Gnade. Nach und nach spürt sie systematisch einen Bösewicht nach dem andern auf, liquidiert sie alle skrupellos und entsorgt sie anschließend fachgerecht.
Wer Bernhard Aichners Krimi-Reihe um Max Broll kennt, wird bei seinem neuesten Thriller »Totenfrau« zwar nicht den Protagonisten, wohl aber den markanten Sprachstil wiedererkennen. Erzählende Passagen und Dialoge sind strikt getrennt. Ein Staccato aus kurzen, einfach gebauten Sätzen, oft nur elliptischen Fragmenten, erhöht an manchen Stellen das Tempo und bindet uns nah ans brutale Geschehen, an anderen lässt uns der Autor zur Ruhe kommen, verweilt lange, schafft eindringliche Szenen, und das mit wenigen Worten. Indem Aichner in den meisten Sätzen auf adverbiale Ergänzungen verzichtet, bleibt viel an atmosphärisch relevanten ›Ausstattungsdetails‹ unbestimmt; der Leser füllt diese Lücken dann mit seiner eigenen Vorstellungskraft, was für ein beeindruckend intensives Leseerlebnis sorgt. Insbesondere die Dialoge – Satzfetzen zwischen den Gesprächspartnern, ohne Sprecherangaben und Einleitungen aneinandergereiht – wirken unmittelbar wie Drehbuchauszüge bzw. Filmmitschnitte.
Ein anderes Merkmal der Max-Broll-Reihe hat Aichner bei der »Totenfrau« zurückgedrängt: die ironische Schiene aus schwarzem Humor, Skurrilitäten und trügerischer Dorfidylle. Zwar verdienen sowohl Max Broll (der Totengräber) als auch Brünhilde Blum (die Bestatterin) ihren Lebensunterhalt an morbiden, stark emotionsbehafteten Orten und mit als makaber empfundenen, gesellschaftlich tabuisierten Tätigkeiten, doch im Gegensatz zum wackeren, kauzigen Ex-Journalisten Broll in der Provinz ist die großstädtische Unternehmerin Blum eine wahrlich furchterregende Psychopathin, ein Monster. Wenn sie eiskalt mordend ihrer Mission folgt, strebt sie nach nichts Geringerem als Perfektion, und fast erreicht sie sie ...
Fazit: Berhard Aichners »Totenfrau« ist ein Krimi ganz eigenwilligen Stils, der den Leser von Anbeginn auf eine rasante, lebensgefährliche Fahrt mitnimmt, die uns kaum Muße zum Durchatmen lässt: Wir bleiben dran, und unsere Nerven bleiben angespannt, bis endlich die letzten Dialogzeilen alles auflösen ...