Vortreffliche Frauen
von Barbara Pym
Im London der Nachkriegszeit hat sich Jungfer Mildred mit ihrer Rolle arrangiert. In ihrer Gemeinde hilft sie still, wo immer sie gefragt wird, sei es beim Bazar oder als wandelnder Kummerkasten. Für Männer ist sie ein Neutrum. Doch mit neuen Mietern ziehen neue Sitten ein: Schluss mit Prüderie, Zurückhaltung und selbstloser Aufopferung.
Jetzt reicht’s
Mildred Lathbury ist nicht nur eine »vortreffliche Frau«, sondern – zumindest in ihrer Zeit, den späten Vierzigerjahren – vielleicht sogar eine ideale Partnerin. Sie ist verständnisvoll, geduldig, zurückhaltend, fleißig, hilfsbereit und beherrscht. Trotzdem ist sie mit ihren über dreißig Lebensjahren noch immer ungebunden und unverheiratet.
Freilich fehlt Mildred auch manches, was Mann sich unter einer idealen Partnerin vorstellt. Ihr Äußeres ist »farblos und unscheinbar«, braungrauer Rock und Kittelschürze fördern ihre Attraktivität nicht, und ihren Konversationen mangelt es nicht an taktischem Geschick, wohl aber an Esprit. So nehmen Männer die »altjüngferliche« Erscheinung als Neutrum wahr.
All dies weiß Mildred, die Protagonistin und lakonische Ich-Erzählerin dieses zärtlich schmerzhaften, leise ironischen, herrlich unzeitgemäßen Romans mitten aus der mittleren Mittelklasse Englands, wie es einmal war. Und sie weiß um die Qualitäten, deretwegen sie zu den Frauen gezählt wird, die in ihrer Gesellschaft als »vortrefflich« gelten. Sie übernehmen ehrenamtlich Aufgaben in der Gemeinde. Sie kümmern sich um ihre Nachbarschaft und die Älteren. Sie sind für alles und jedes nützlich. Sie machen kein Aufhebens um ihre Arbeit und erwarten keinen Dank. Sie leben zurückgezogen in einfachen Verhältnissen und haben keine Bedürfnisse im Leben. Sie sind beliebte Anlaufstellen für Mitmenschen, die für ihre privaten Anliegen Rat und Tat suchen. Die Gesellschaft umgibt diese Frauen mit einer hohen moralischen Schutzmauer und legt fest, was sich für sie schickt und was nicht. Was beispielsweise gar nicht geht, ist Eigeninitiative, um sich aus Einsamkeit und Geschlechtslosigkeit zu befreien, und schon gleich nicht, auf einen alleinstehenden Mann zuzugehen.
Mildred, die einem ländlichen Pfarrerhaushalt entstammt, macht sich keine Illusionen über ihre soziale Position und Funktion. Sie hat sich in ihrem ruhigen, geregelten Alltag, ihrem bescheidenen Seelenleben und in ihrer Rolle als graue Maus arrangiert, ohne ihre Würde aufzugeben. Das Koordinatensystem ihres Lebens liefert die anglikanische Kirche (High Church natürlich), Dreh- und Angelpunkt ist der sonntägliche Kirchgang. Mildred lebt in einer kleinen, nicht abgeschlossenen Wohnung, deren Bad sie mit den Mietern der darunter liegenden Räume teilt.
Nun steht ein Möbelwagen vor der Tür. Mildred fegt extra die Treppe, um die neue Mieterin, »blond und hübsch, flott gekleidet in Cordhose und einer bunten Strickjacke«, und ihre Möbelstücke beiläufig zu erspähen. Ihr Vorsatz, Mrs Helena Napier bei Zeiten zu einem kultivierten Kennenlernen einzuladen, scheitert an den inadäquaten Umständen ihrer ersten Begegnung im Müllkeller. Stattdessen lädt Mrs Napier sie ein, und bei Tee aus dem Becher (statt »mit meinen besten Kaffeetassen und Keksen in kleinen Silberschälchen«) sieht und hört die ratlos staunende Mildred, dass Helena »furchtbar schlampig« sei, das Gemeinschaftsbad »grässlich« finde, sich ihres Klopapiers bedient habe und möglicherweise vergessen werde, neues zu kaufen – alles Dinge, über die man in Mildreds verschämten Kreisen schweigt. Rätselhaft ist ihr auch, dass Helena als »Anthropologin« durch Afrika gereist sei (»War sie am Ende Missionarin?«), während ihr Gemahl, Ex-Flaggleutnant bei der Marine, zuletzt in einer italienischen Luxusvilla am Meer stationiert gewesen sei, wo »seine anstrengendste Arbeit [darin] bestand, Scharen von drögen Marinehelferinnen in schlechtsitzenden weißen Uniformen zu charmieren«. Mit seiner baldigen Ankunft werde im Haushalt alles besser laufen, zumal er das Kochen übernehmen werde.
Während Mr Napiers klangvoller Name – »Rockingham«! – Mildred verzaubert wie ein »Schmuckstück, das einem aus der Mülltonne entgegenleuchtet«, findet sie die Dame, die offenbar aus einer ganz anderen Welt gefallen ist, nicht sonderlich sympathisch. Gewisse dahingelächelte Bemerkungen – »dass sie mit der Kirche ja nun nichts anfangen könne«, dass Pfarrer Malorys Gemeinde »wahrscheinlich sowieso nur aus älteren Damen mit zu viel freier Zeit besteht … Kanzelschwalben, wissen Sie« – treffen Mildred geradewegs ins Herz.
In der Folge wird Mildreds wohlgeordnete stille Welt, ihr ganzer innerer und äußerer Kosmos durch die beiden neuen Mieter ordentlich durcheinandergewirbelt. Unvorhergesehene, ja kaum vorstellbare Entwicklungen im Haushalt des befreundeten Pfarrers Julian Malory tun ein Übriges.
Mildred selber sehnt sich durchaus nach Liebe – im Sinne züchtiger gegenseitiger Zuneigung verwandter Seelen, versteht sich –, ist aber zu verzagt, um an Initiativen auch nur zu denken. So ein zartes Band flattert hin zu Julian Malory, dessen Schwester ihm den Haushalt versorgt, und zum feschen, charmanten Rockingham. Wer hätte je gedacht, dass die unauffällige Miss Lathbury einmal gleich zwei Eisen im Feuer haben und vor schwierige Entscheidungen gestellt würde?
Wie üblich wird Mildred allerdings in ihre allzu gewohnten Funktionen als eine Art Kummerkasten zurückgedrängt. Eine andere Frau agiert flexibler, Rockingham hat Vertrauliches zu verschenken, sonst nichts, und beide würden ihre geduldige Zuhörerin gern für ihre Zwecke einspannen. Damit wird es Mildred jetzt freilich zu bunt. Sie ist es leid, immer nur »anderer Leute Last« auf sich zu nehmen, und rebelliert auf ihre Weise.
Dieser Roman wird Leserinnen und Leser begeistern, die britische Bürgerlichkeit mit kräftigen Prisen von Ironie und Kauzigkeit zu schätzen wissen und vielleicht schon J.L. Carr lieben (ebenfalls bei Dumont erschienen) [› Rezension]. In vielen Episoden voller hintergründiger Konversationen und subtiler Plaudereien entwickelt sich eine äußerlich unspektakuläre Handlung, die nicht nur Mildreds, sondern auch des Lesers Emotionen in Wallung bringt und ein umwerfendes Sittengemälde der Londoner Nachkriegsgesellschaft ausbreitet.
Die Autorin Barbara Pym (1913-1980) ist bei uns weitgehend unbekannt und wurde auch in ihrem Heimatland lange unterschätzt, doch ihr Roman »Excellent Women« , 1952 erschienen, fand begeisterte Anerkennung, die bis heute bestehen blieb. Im Jahr 2015 lud BBC Culture 81 nicht-britische Literaturkritiker aus der ganzen Welt ein, die zehn besten britischen Romane ihrer Wahl zu benennen, und in der so entstandenen Liste der einhundert besten britischen Romane aller Zeiten findet sich »Excellent Women« auf Platz 80, knapp hinter Maughams »Of Human Bondage« und Hardys »The Mayor of Casterbridge«. Die erste deutsche Übersetzung (von Dora Winkler) erschien 1990 bei Piper, für die vorliegende Dumont-Ausgabe von 2019 hat Sabine Roth den Roman neu übersetzt.