Égalité, fraternité und die Aufklärung eines Verbrechens
Die französische Stadt Nancy im Jahr 1894 ist der Handlungsort des Romans. Nach dem verlorenen Krieg musste die Republik Frankreich Teile von Elsass-Lothringen an Deutschland abgeben. Viele der dort lebenden Juden flüchteten nach Nancy.
Im Leichenschauhaus liegt ein verstümmelter Säugling. Ein Ritualmord, der schnell einem Juden angehängt wird. Der Fall wird von Richter Bernhard Martin übernommen. Der ist leidenschaftlicher Republikaner und hält deren politische Ideale hoch.
Die Situation spitzt sich zu, als man den Spinnereibesitzer Victor Ullmann und den Juristen Daniel Erlanger ermordet. Beide waren sehr vermögend und genossen in ihrer israelitischen Gemeinde besonderes Ansehen. Ullmann gehörte zum Konsistorium von Nancy, "das die Juden an den Staat binden, sie zu Franzosen machen, ihre religiöse Erziehung modernisieren, die jüdischen Riten würdevoller machen sollte, entsprechend den Prinzipien der Aufklärung".
Aber die politische Lage macht Martin die Aufklärung der Taten sehr schwer. In der Bevölkerung schwelt Hass gegen die Israeliten. Zeitlich passend äußert sich der oberste Kriegsminister im Figaro zum Fall Dreyfus – und er verkündet sein Urteil schon vor Prozessbeginn: Dreyfus, ein Israelit, habe als Agent militärische Geheimnisse an die Deutschen weitergegeben. Hetzkampagnen von Predigern und Journalisten schüren Vorurteile. Edouard Drumont, Herausgeber der Zeitung La Libre Parole ("Das freie Wort") , zeichnet in seinen Karikaturen den hässlichen Juden.
Beeindruckend wird die Arbeit Bernhard Martins beschrieben. Private Sorgen um seine Frau Clairie belasten ihn bei seiner beruflichen Tätigkeit. Geleitet von seinen Idealen handelt der unabhängige Republikaner mit Bedacht und Verantwortungsgefühl. Oft stellt er sich die Frage, ob er womöglich durch eigene Fehler den Tod der beiden Israeliten mitverschuldet habe. Er darf nicht versagen. Welches Licht fiele dann auf das Gericht von Nancy? Viel Neues lernt er über das Leben der Israeliten. Sein Kollege David Singer und andere Bekannte waren für ihn ganz normale Franzosen gewesen – bis zu dem Tag, als sie im nicht-öffentlichen Leichenschauhaus erschienen, um ihre toten Mitglieder nach ihren Riten zu betrauern. Als Reiche bleiben sie unter sich, treffen sich in der Synagoge zum Gebet und zur Versammlung. Doch täglich strömen arme vertriebene Israeliten nach Nancy, lassen sich im Randbezirk nieder, haben eine bescheidene Gebetsstätte und leben strenggläubig nach den traditionellen Gesetzen der Thora.
Wer hat ein Motiv, die Israeliten umzubringen? Und warum? Bis zum Ende des Romans hält Barbara Pope die Spannung aufrecht. Ihr Sprachstil ist ruhig, genau beschreibend, ohne langatmig zu sein. Gut gefällt mir, dass sie das Thema des Antisemitismus gefühlvoll behandelt. Langsam schleichend entwickeln sich die Vorurteile, bevor die Hetze systematisch gesteuert wird.
Barbara Pope ist Geschichts-Professorin. Kompetent recherchiert, präzise und differenziert formuliert hat sie mit literarisch wohl gesetzten Worten einen angenehm zu lesenden und zugleich anspruchsvollen Roman verfasst.