Lügnerin
von Ayelet Gundar-Goshen
Nachdem ein abgehalfterter Schlagersänger die siebzehnjährige Nuphar lautstark in Grund und Boden beleidigt hat, gewinnt das Leben des Mauerblümchens endlich an Glanz. Doch ihr Glück und sein Unglück gründen auf einer Lüge, und das Mädchen stürzt in tiefe Gewissenskonflikte.
Lügen haben dicke Beine
Sie begegnet uns täglich und in allen Bereichen: die Lüge. Sie hilft uns aus der Patsche, indem sie demjenigen, dem wir sie auftischen, vorgaukelt, dass alles in Ordnung sei. Sie verschafft uns einen Vorteil, indem sie den anderen betrügt. Sie hat einen schlechten Ruf, und trotzdem freuen wir uns alle, ab und zu auf sie zurückgreifen zu können. (Erstaunlicherweise ist sie in letzter Zeit im öffentlichen Leben hoffähig geworden. Immer mehr Leute jubeln, wenn sie belogen werden, dem Lügner zu, anstatt ihn zu ächten. Aber das ist eine andere Geschichte.) In Ayelet Gundar-Goshens neuem Roman lesen wir zweierlei: Der Schaden, den eine Lüge anrichten kann, kennt keine Grenzen, und in gewissen Situationen können sich Lügen wortlos ins Leben schleichen.
Ayelet Gundar-Goshen weiß, wie die menschliche Seele tickt. Das hat die praktizierende Psychologin aus Tel Aviv schon in ihrem letzten (zweiten) Roman »Löwen wecken« [› Rezension] bewiesen. In allen Facetten kann sie offenlegen, wie und warum Menschen die Wahrheit ein bisschen zurechtbiegen und was das bei den Betroffenen bewirkt. Obendrein kann die Autorin all das dank eines herausragenden schriftstellerischen Talents in eine packende Handlung fassen und bewundernswert ansprechend formulieren (was dank Helene Seidlers ausgezeichneter Übersetzung auch wir Deutschsprechenden genießen können).
Die »Lügnerin« des Titels ist Nuphar Schalev, eine unauffällige Siebzehnjährige von wenig attraktiver, leicht pummeliger Gestalt. Vielleicht hätte sie kein so zaghaftes, verschlossenes Wesen entwickelt, hätte sie nicht seit eh und je im Schatten ihrer jüngeren Schwester Maya gestanden: hübsch, anmutig und intelligent. Während Maya »durch liebliche Auen grünen Lichts« wandelt und nicht einmal die Verkehrsampeln sich ihr verweigern, »bewegte sich [Nuphar] in der Welt wie ein ungebetener Gast auf einem Fest«: Keiner beachtet sie.
Vielleicht wäre ihr Leben zwar nicht glücklich, so doch unscheinbar verlaufen, hätte sie nicht den Sommerferienjob in der Eisdiele angenommen. In ihren Träumen würde aus einem der vielen Kunden dort der ersehnte Freund werden, doch in der Realität richtet sich kein einziges Augenpaar auf sie, und die einzige Berührung, die ihr zuteil wird, kommt bei der flüchtigen Herausgabe des Wechselgeldes zustande.
Vielleicht wäre Nuphars Begegnung mit Avischai Milner so belanglos geblieben wie alle anderen Eisverkäufe, hätte sie nicht ihre Mittagspause ein wenig überzogen. Avischai, in seinem Selbstbild noch immer der gefeierte Schlagersänger, der er einst war, muss gerade eine SMS wegstecken, die ihm signalisiert, dass seine Zeit nun endgültig vorbei ist. Ein Eis kann besänftigen. Doch ein Stachel folgt dem nächsten. Niemand hinter der Theke. Eine Ewigkeit des Wartens. Dann erscheint ein ignorantes Pummelchen, das ihn nicht erkennt, nicht zuvorkommend bedient, sich gar erdreistet, seinen Satzbau zu korrigieren. Die geballte Frustration des abgetakelten Promis spült den letzten Rest seiner Contenance hinweg und ergießt sich als Schwall übelster Vulgaritäten und Beleidigungen (die zu zitieren die Höflichkeit der Rezensentin verbietet) über Nuphar.
Die junge Frau verliert jeden Halt. Dieser Fremde hat »ihr Wesen getötet«. Sie weiß: Er hat ihr nur um die Ohren gehauen, was wahrscheinlich die ganze Welt von ihr denkt, aber taktvoll für sich behält. Kopflos rennt sie aus der Eisdiele und sucht Zuflucht im stinkenden Klohäuschen auf dem Hof. Doch Avischai ist ihr nachgerannt, reißt das Türchen auf, packt sie grob am Arm. Dass er ihr nur sein Wechselgeld nachtragen will, ahnt sie nicht, sie schreit um ihr Leben, schreit die Kränkungen, schreit die Enttäuschungen dieses und aller vergangenen Sommer aus sich heraus.
Der Lärm ruft nicht nur neugierige Anwohner auf den Plan, sondern auch eifrige Ordnungshüter. Sie nehmen Avischai in die Zange und befragen ihn, was er der minderjährigen Eisverkäuferin angetan habe. Sein verzweifelt herausgebrülltes »Nichts« verhallt ungehört wie die Begründung, so ein »feistes Flusspferd« würde er nicht einmal mit einem Stock anrühren. Indes findet Nuphar Trost in den Armen einer blonden Soldatin, die dem verstörten, zitternden Mädchen tiefes Mitgefühl und beruhigende Worte schenkt. Alle Umstehenden meinen zu wissen, was sie sie fragt (»Hat er dich angefasst?«, was sonst?) und dass Nuphars Zucken und Schluchzen nichts anderes als »Ja« bedeuten kann. Und aus diesem schlüpfrigen Matsch sprießt am nächsten Morgen die omnipräsente Schlagzeile »Versuchte Vergewaltigung einer Minderjährigen – Ex-Star verdächtigt«.
In allen Details breitet die Autorin das Wohlgefühl aus, mit dem sich Nuphar nun vom hässlichen Entlein zur »Medienprinzessin« wandelt. Trotz garstiger Einwände, ob so ein schlichtes Geschöpf überhaupt Lust wecken könne, läuft die Story wie geschmiert. Nuphar wird (aufgehübscht) von einer Show zur anderen weitergereicht. Ihre Klassenkameraden bewundern sie, und Maya, die ewig Schöne, ist stolz auf ihre Schwester.
Doch auch in den schwindelndsten Höhen ihres Egotrips erreichen Nuphar gewichtige Fragen. Bald wird sie im Prozess gegen den verbalen Übeltäter, den sie bislang quasi passiv wie einen Vergewaltiger aussehen ließ, aussagen müssen. Kann sie es wirklich verantworten, vor Gericht Klartext zu lügen und den Mann dadurch für Jahre ins Gefängnis zu verbannen?
Natürlich möchte Nuphar, im Grunde eine ehrliche Haut, gern auf den Pfad der Wahrheit zurückkehren. Doch wie? Längst hat sich die Lüge verselbstständigt, weite Kreise gezogen. Meisterlich arbeitet die Autorin heraus, wie ihre Protagonistin in ihrem inneren Zwiespalt laviert, wie sie ihre Geschichte irgendwie hinbiegt, so dass sie der Realität nahe kommt, aber doch so fern bleibt, dass sie nicht den geballten Hass all derer entzündet, die sich getäuscht sähen.
Da betritt eine neue Figur die Bühne, ein Nachbarsjunge mit ähnlichem Schicksal wie Nuphar, der sich allerlei eigene Vorteile davon verspricht, wenn sie den Status Quo bestätigen würde. Und er hat Mittel, seinen Wünschen Nachdruck zu verleihen. Auf der anderen Seite zerrt die Mutter am Gewissen ihrer Tochter. Nie würde sie ihr eine so verhängnisvolle Lüge durchgehen lassen. Kann Nuphar auf den wackligen Füßen ihres Selbstbewusstseins diesen Anstürmen standhalten?
Von einer Lüge ähnlichen Kalibers lesen wir im zweiten Teil des Romans, während Nuphar und ihr Täter-Opfer sich noch weiter um die Wahrheit quälen müssen. Ist Nuphar allerdings in ihre Lüge nur hineingeschliddert, so hat sich Raymonde, die zweite »Lügnerin«, höchst bewusst und kalkuliert für die ihre entschieden. Die alte Dame ist im Seniorenheim mit einer Holocaust-Überlebenden bekannt und schlüpft nach deren Tod in deren Identität. Sie gibt sich als »weise, gütige Schoa-Überlebende« aus, reist mit Schülergruppen zu den Vernichtungslagern und erzählt Geschichten, die sie zuvor im Internet recherchiert hat. Ausgerechnet ihr gesteht Nuphar ihre Lüge – und erhält dafür eine schwere Rüge.
Mit ihrem neuen Opus »Lügnerin« ist der israelischen Autorin wieder ein großer Wurf gelungen. Sie führt erneut ihre Charaktere in schlimme Bedrängnisse und schafft es, deren Nöte so zu gestalten, dass wir Leser hautnah mitleiden. Der ausrangierte Popkünstler etwa verzweifelt nicht einfach über der bitteren Erkenntnis, dass ihn niemand mehr sehen und hören will – er »verbrennt« darüber: »Das Feuer, das [seine früheren Fans] in Avischai Milner entzündet hatten, brannte lichterloh. Es glühte auch jetzt im Dunkeln seiner Zelle.« Ayelet Gundar-Goshens Sprache ist niemals eintönig, sondern durchweg vielgestaltig, verspielt, poetisch (»Der Wind tanzte in den Zweigen des Orangenbaums, und die Zweige antworteten ihm mit anmutigen Verneigungen«), und sie macht süchtig nach mehr.