Erzwungene Sühne
Ein perfekter Mensch ist Dr. Etan Grien, 41, nicht, aber ein aufrechter, liberaler Staatsbürger, nicht religiös, aber mit festen Moralvorstellungen. Deswegen konnte er die Korruptionsfälle auf seiner Station im Zentralkrankenhaus Tel Aviv nicht weiter decken. Er musste das Richtige tun: sie zur Anzeige bringen, auch wenn er damit seinen Vorgesetzten, den Professor und Chefarzt, belastete. Doch niemand zog den Übeltäter zur Rechenschaft. Vielmehr entledigte man sich des ›Denunzianten‹, indem man ihn wortwörtlich in die Wüste schickte.
Seine neue Wirkungsstätte: ein Krankenhaus in der Provinz. Der Neurochirurg leidet in der Verbannung. Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Unrat in den Grünanlagen und über allem eine Schicht von pudrigem Staub, mit dem der Wüstenwind unaufhörlich alles überdeckt. Den Staub hasst Etan noch mehr als die Einwohner dieser Stadt Beer Scheva.
Die Arbeitsbedingungen sind eine Zumutung, Überstunden die Regel. So bleibt Etan nicht einmal mehr genug Zeit für seine Frau Liat und die beiden Söhne (6 und 8). Liat ist Kriminalbeamtin und war auch mit der Korruptionsaffäre in Tel Aviv befasst. Wäre die Sache anders ausgegangen, wenn sie sich stärker engagiert hätte? Ein gewisses Schuldgefühl mag zu dem Geschenk beigetragen haben, das sie Etan als Trostpflaster für den unfreiwilligen Ortswechsel gönnte: einen dicken roten Geländewagen.
Aus dieser Konstellation von Umständen – nicht schön, aber nicht unerträglich – stürzt die israelische Autorin Ayelet Gundar-Goshen (Jahrgang 1982) ihren ehrenwerten Protagonisten nun in eine Art von vielschichtigem Verderben – unerwartet, unmoralisch und unerträglich. Erschöpft von einem neunzehnstündigen hochkonzentrierten Arbeitstag sucht Etan um zwei Uhr nachts noch etwas Entspannung, indem er seinen »Panzer von Mercedes« durch die Wüste hetzt, seine Leistungen ausreizt. Mitten im Gelände überfährt er einen Mann. Nach kurzer Untersuchung des unrettbar Sterbenden und dem Abhaken seiner eigenen Rettungsoptionen entscheidet er sich für die Unfallflucht. Sein Opfer, so weiß er, ist ein schwarzer Eritreer ohne Aufenthaltsrecht, ein »Infiltrant «.
Schon am nächsten Morgen steht Sirkit, die junge Frau des Getöteten, vor Etans Tür. Sie sah den Unfall und seine Flucht – und fand sein Portemonnaie neben der Leiche ihres Mannes. Groß, schlank und sehr schön, diktiert Sirkit bald ihre Bedingungen für Etans Sühne: Nicht Geld, sondern medizinische Versorgung fordert sie, nicht für sich, sondern für ihre »Leute« – Flüchtlinge, die sich in kein Krankenhaus trauen, die Angst haben, interniert zu werden.
Dr. Etan Grien führt von jetzt an zwei Leben. Das offizielle über Tag ist schwer genug. Das geheime in der Nacht aber ist sein Purgatorium. Auf einem rostigen Metalltisch in einer seit langem verlassenen dunklen Werkstatt operiert er die sich in unendlicher Kolonne herbeischleppenden Kranken, verarztet ihre auf der Flucht geschundenen, verwahrlosten Leiber, ihre schwärenden Wunden und offenen Infekte. Er ekelt sich vor all diesen Körpersäften, dem »Fleisch«, das nach »Verwesung« riecht. Für diese Menschen, mit denen er keine gemeinsame Sprache hat außer rudimentäre Mimik und Gebärden, mit denen sie ihm unendliche Dankbarkeit bedeuten, hat er nur ein Gefühl: Er »hasste sie«. Dabei unterscheidet er sehr wohl zwischen der freiwilligen ethischen Verpflichtung, »jeden Menschen zu behandeln«, die er durch seinen ärztlichen Schwur auf sich genommen hat, und der Erpressung durch Sikrit, die »eritreische Hündin« und seine Nemesis, die all sein Tun überwacht.
Neben der körperlichen Auslaugung macht Etan sein Verfall als Persönlichkeit zu schaffen. Was ist von dem Studenten mit Auszeichnung, dem Eliteoffizier und angesehenen Arzt geblieben? Einer, der im Krankenhaus Medikamente klaut. Einer, der seine Frau belügt, sich mit ständigen Ausreden durchlaviert. Während ihn Selbstverachtung zermürbt, wächst der Hass auf die ihm aufgezwungenen Patienten und vor allem die schwarze Frau, die ihn zur Abarbeitung seiner Schuld zwingt.
Inzwischen bearbeitet ausgerechnet Liat den tödlichen Autounfall mit Fahrerflucht in der Wüste. Sich seiner Frau endlich anzuvertrauen, das scheint Etan immer weniger möglich. Natürlich ist ihm daran gelegen, ein Ehemann und Vater ohne Makel zu bleiben. Aber auch Liat wagt es nicht, zu hinterfragen, wo ihr Mann jede Nacht steckt, warum er nicht mehr schlafen kann. Ihm nachzuspionieren könnte das schöne Bild einer vorbildlichen Ehe gefährden, das sie vor sich und der Außenwelt stets gehegt hat. Der treue, tolerante Partner ist ein wesentliches Element in dieser Konstellation, in der sie sich selbst als Schwachstelle wahrnimmt. Ursache ihrer Scham ist ihre Herkunft: Sie stammt aus dem Irak. Schon seit langem kompensiert sie ihre vermeintliche Minderwertigkeit, indem sie diese Identität zu verleugnen sucht. Sie hat ihren irakischen Namen abgelegt, ließ ihre schwarzen Körperhaare epilieren und erhob Sauberkeit zum Maß aller Dinge. Wenn sie selber schon niemals rein sein wird, so soll es doch ihre Wohnung sein.
»Löwen wecken« (von Ruth Achlama ins Deutsche übersetzt) ist ein faszinierender, vielschichtiger Roman. In erster Linie hält die Krimihandlung den Leser vom ersten Satz bis zum unerwarteten Schluss in Atem. Wie kann sich Etan aus der Übermacht seiner Richterin und Vollstreckerin befreien? Kann die Polizei – womöglich Liat? – den Unfallflüchtigen identifizieren? Ein Ehrenmord und die düsteren Machenschaften einer Drogenbande verbreitern die anfängliche Zwei- bzw. Drei-Personen-Basis. Während die äußere Handlung voranschreitet, enthüllen Rückblenden und Reflexionen aus unterschiedlichen Perspektiven über ein und dieselbe Situation aufschlussreiche Innenansichten. Die Autorin – eine studierte Psychologin mit großem Erfahrungsschatz im Umgang mit Patienten und überdies mit bemerkenswertem literarischen Talent – entwickelt überzeugend die komplexen Persönlichkeitsstrukturen ihrer Protagonisten Etan, Sirkit und Liat, allesamt ambivalente, bis ins Tiefste zerrissene Charaktere. Hinter Sirkits Fassade einer hochmütigen, aristokratischen »Sphinx« beispielsweise hat ein trostloses Leben seine Spuren hinterlassen, die sie nicht unterdrücken kann, und obwohl beide – Sirkit und Etan – einander aus gutem Grund verabscheuen, verfallen sie doch ihrer gegenseitigen Ausstrahlung.
So kommen unterschiedliche Wahrheiten und brisante Fragen um Verantwortung und Schuld ins Spiel. Wie zum Beispiel hätte der Arzt gehandelt, wenn er statt des eritreischen Flüchtlings ein junges weißes Mädchen angefahren hätte?
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2015 aufgenommen.