Aufruf zu einem liebenswerteren Leben
Ein Pulk Schaulustiger starrt gebannt nach oben. Polizei, Feuerwehr und ein Psychologe sind angerückt. Am Rande eines Hochhausdaches steht Julio Lambert, bereit zum Sprung in die Tiefe. Da nähert sich von hinten ein Alter, ungepflegt bis verlottert, der sich unten durch alle Absperrungen hindurch gemacht hat, nimmt neben ihm auf der Brüstung Platz, packt sein mitgebrachtes Sandwich aus, verspeist es genüsslich und trällert vergnügt ein Liedlein.
Der Lebensmüde ist ein vierzig Jahre alter Universitätsprofessor. Erst faucht er den Sonderling an, er solle abhauen. Doch dann bringt der ihn ganz aus seinem Konzept: Es gelingt ihm, Julios Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem er ihn in ein Gespräch voller Fragen verwickelt, ihm ein Gedicht vorträgt, in dem alles, was Julios Leben ausgemacht hat, beschworen und gelöscht wird: "Lächeln und Ängste der Kindheit seien dem Mann genommen! / Seiner Jugend Übermut und Abenteuer geraubt! ..."
Der Lebensmüde erkennt nun Fehler in seiner nicht bewältigten Vergangenheit, gibt sein Vorhaben auf und folgt fortan diesem Mann, der ihm noch für lange Zeit rätselhaft bleibt, auf einer gemeinsamen Wanderschaft. Der Fremde bezeichnet sich selbst als "Traumhändler". Einem wie Julio, der seinem Leben einen "Schlusspunkt setzen" will, wolle er "ein Komma verkaufen", damit er seine "Geschichte weiterschreiben" könne. Er könne Julio lehren, das Leben wieder zu lieben.
Mit dem nächsten Kapitel - "Der erste Schritt" - wird Julio zum Ich-Erzähler. Auf amüsante Weise berichtet er von dem uneigennützigen Lebenskünstler und ihren Erlebnissen mit Käuzen, Verrückten und ganz normalen Wahnsinnigen. Mehr und mehr Menschen schließen sich ihnen an. Der "Traumhändler" ist ein Heilsbringer, der einer aufmerksamen Gefolgschaft predigt und sie mit Gleichnissen belehrt. Er lebt unter Gottes freiem Himmel, hat allem Materiellen entsagt, lebt von Spenden.
Seine Botschaften sind ein Mix aus christlicher Lehre, Idealen der französischen Revolution, der UN-Menschenrechtserklärung, modernen humanistischen Ideen (bzw. Ideologien), dazu einer Prise franziskanischer Ethik. Da bleibt kein Schlagwort aus: die Gier nach Geld - die Ausbeutung der Arbeiter - die Isolation des Einzelnen in der mediengesteuerten Welt - fehlgeleitete Emotionen - das Streben nach konformer Schönheit - Leistungsdruck - Perfektionismus - Konsumwahn - kurz: das globale Irrenhaus, in dem allerdings die Falschen behandelt werden, denn "unser Problem sind die Normalen" (um Manfred Lütz zu zitieren).
Das alles wird nicht plump angeprangert, sondern der "Meister" befragt sein Gegenüber in sokratischer Manier, und schon erkennt der ganz wunschgemäß die Hohlheit seiner bisherigen Lebensziele ("mein Fundament missachtet" - "die Macht des Geldes [...] übermäßig geschätzt" - meine "intellektuellen Fähigkeiten [...] viel zu wichtig genommen"), schaut den Weg, den er beschreiten soll, weiß, wessen er sich entledigen muss (weg mit "Ruhm und Prestige", "Luxus und Komfort"), um bessere moralische und sittliche Werte anstreben und schließlich sich selbst finden zu können.
Bald werden die Medien aufmerksam und gieren nach Details und Hintergründen des Phänomens, das zur Massenbewegung wird. Die Entwicklung kulminiert in einem gigantischen Auftritt in einem Stadion, das bis auf den letzten Platz gefüllt ist; dort dringt endlich Licht in die mysteriöse Vorgeschichte des Mannes, den manche gern als Scharlatan diffamieren würden.
Meine Wertung - drei Sterne - würdigt mehr den braven Autor und seine guten Intentionen als die Qualität seines Buches.
"O Vendedor de Sonhos: O Chamado" hat Mechthild Blumberg aus dem (brasilianischen) Portugiesisch übersetzt (wobei der Zusatz "o chamado" - der Ruf, Aufruf, Appell - wegfiel, warum auch immer). Es ist eine lebensbejahende, warmherzige, heitere und anrührende Lektüre, die Anregungen gibt, über vieles nachzudenken und manches im Umgang mit den Mitmenschen und sich selbst zu verändern. Das Buch ist nett zu lesen, aber manchmal ein bisschen steif in Stil und Handlungsgestaltung.
Was ich gar nicht mag, ist sein schlichtes, klischeehaftes Weltbild. Ein (natürlich) verkannter und sonderlicher "Meister" durchwandert unsere verkorkste Welt und predigt den verkorksten Menschen einen "Traum, eine fantastische, romantische Utopie" (S. 226). Immer mehr Jünger erhören ihn, bis "auch große Männer weinen" (S. 305).
Überladen mit Gleichnissen und Symbolen, pseudoreligiös, spirituell, psychologisierend, weihevoll, süßlich, realitätsfern - ich kann verstehen, dass viele Leser das trotzdem mögen, weil es Trost, Lebenshilfe oder einfach eine gute Stimmung schenkt, aber ich gehöre nicht dazu - sorry ...
Den Brasilianer Augusto Cury, der als Arzt, Psychiater, Psychotherapeut, Forscher und Autor arbeitet, will ich nicht diskreditieren. In seiner Danksagung würdigt er Menschen, die "aus ihren Träumen Lebensziele gemacht" haben - um das Leben der Ärmsten in den Slums erträglicher zu machen, um Häftlingen menschliche Würde zu vermitteln, um mittellose Kranke zu heilen, um ein weiteres Stückchen des Traums von einer besseren Welt zu realisieren, und sein Buch sieht er als Beitrag auf diesem Weg. Gut - für manche sind Botschaften wie die Augusto Curys oder die seines "Traumhändlers" hilfreich, doch so einfach wie der in der Anfangsszene den Intellektuellen überzeugt, ist in der komplexen Realität unseres Globus kein einziges Problem zu lösen.