Bluebird, Bluebird
von Attica Locke
Darren Mathews, Texas Ranger und Neffe des ersten Farbigen in dieser stolzen Truppe, wird in die tiefste Provinz abgeordnet, um den Mord an einem Schwarzen und einer Weißen aufzuklären. Der Ort hat keine 200 Einwohner und ist doch ein dicht verflochtener Mikrokosmos aus unverhohlenem und latentem Rassismus, in den Darren tief eintauchen muss.
Amerikas wahres Gesicht
Darren Mathews ist ein kluger, gebildeter, engagierter Mann. Er weiß, woher er kommt und wohin er gehört. Geboren wurde er vor vier Jahrzehnten im ländlichen Ost-Texas, aber sein Stammbaum reicht zurück bis in die Zeit vor dem Bürgerkrieg. Zwar hat – so geht die Mathews-Legende – ein wohlwollender Weißer seinen »Lieblingssklaven« nicht nur seinen Namen, sondern auch fruchtbares Ackerland hinterlassen, aber das änderte nichts an der Hautfarbe von Darrens Familie. Wie alle anderen Schwarzen waren sie permanenter Diskriminierung ausgesetzt, die urplötzlich »das alltägliche Verhalten eines schwarzen Mannes in eine Sache auf Leben und Tod verwandeln konnte«. Indem sie die »alten Regeln des Lebens im Süden« beachteten, verfolgten sie ihren Weg und gelangten durch Zielstrebigkeit und Fleiß zu Bildung, Vermögen und Ansehen, wurden Lehrer, Ärzte Anwälte.
Auch Darren hätte sein Jurastudium an der Eliteuniversität Princeton beenden und Anwalt werden können. Doch ihn hat das Vorbild seines Onkels William geprägt, des ersten farbigen Texas Rangers. Wie er wollte er als aufrechter Streiter für die Sache der Farbigen Rassismus und Ungerechtigkeit im Alltag seiner afroamerikanischen Mitbürger bekämpfen. Als Mitglied einer Sondereinheit des FBI Houston wird er nun zurück aufs Land beordert, um ein suspektes Verbrechen aufzuklären, möglicherweise »irgend so ein Rasseding«, das der ortsansässige Sheriff vertuschen will. Innerhalb einer Woche hat man im Shelby County zwei misshandelte Leichen aus dem Attoyac Bayou gezogen. Michael Wright, ein schwarzer Anwalt aus Chicago auf der Durchreise, und Missy Dale hatten zu später Stunde gemeinsam die Bar verlassen, in der die Weiße als Kellnerin arbeitete.
Am Schauplatz des Verbrechens, im 178-Einwohner-Kaff Lark, stoßen trotz seiner Winzigkeit all die Kräfte aufeinander, die seit langer Zeit das feindselige Klima bestimmen. Die Autorin hat den fiktiven Ort direkt am US Highway 59 angesiedelt, eine »asphaltierte Hoffnung« für viele mittel- und perspektivlose Farbige, die diese Nordsüd-Route nutzten, um abzuhauen und im Norden ein besseres Leben zu suchen. Willensstarke Landbesitzer wie die Mathews blieben lieber und hielten den Kopf hoch. Wer weder genug Felder noch Energie hatte, musste bleiben und dulden. Solch arme Farbige (»Baumwollpflücker, die ihr Leben als Arbeitssklaven gegen ein Leben mit erdrückenden Pachtschulden eingetauscht hatten, nur ein Sprung vom offenen Feuer in die Bratpfanne, von der Gewissheit der Hölle in die langsam quälende Folter der Hoffnung«) sind im Café der alten Geneva Marie Meeks direkt am Highway willkommen. In dem merkwürdigen, seit fünfzig Jahren unveränderten Raum voller altem Plunder bietet die farbige Besitzerin ihren Gästen »Schwarzaugenbohnen und Ochsenschwanz« oder gefüllte Teigtaschen an.
Der Gegenpol zu »Geneva’s« ist die heruntergekommene Kaschemme »Jeff’s Juice House« auf der »weißen« Seite des Highways, wo sich die anderen treffen, denen Ressourcen und Initiative für einen Neuanfang anderswo fehlen: die armen weißen Landarbeiter, ungebildet, stockkonservativ, unverhohlen rassistisch und hysterisch gegen alles Fremde und Neue. Diese »Rednecks« vertreiben sich die Zeit an Poolbillard, Flipper, Dartscheiben bei lauter Countrymusik aus der Jukebox und umweht von den Flaggen der Konföderierten an den Wänden.
Während Darren in seinem Truck über die rote Erde seiner geliebten Heimat rollt, springen ihm in der langweilig-eintönigen Landschaft provinzielle Kuriositäten ins Auge: »Leuchttürme in Maisfeldern, lebensgroße Lebkuchenhäuser, eine Scheune mit Donald Trumps Gesicht darauf«, schließlich die »fast perfekte Nachbildung von Thomas Jeffersons Landgut Monticello« nebst einer verkleinerten Ausgabe des »Weißen Hauses« als geräumiges Eigenheim für einen kaum zu bändigenden schwarzen Labrador im Garten. Das noble Anwesen ist die Residenz von Wally Jefferson, Spross einer Plantagenbesitzerdynastie, auch Eigentümer des »Juice House«, entfernt verwandt mit dem dritten Präsidenten der Nation und mächtig stolz darauf. Er gibt sich als distinguierter Boss und Kavalier alter Schule, und niemals würde er in gemischter Gesellschaft das Wort »Nigger« benutzen.
In Lark weht Darren, der angewiesen wurde, sich in seinen Ermittlungen zurückzuhalten, ein eiskalter Wind entgegen. Dem ortsansässigen Sheriff und seinen klaren Prinzipien von Recht und Ordnung darf er nicht in die Quere kommen. Die Rednecks beäugen den schwarzen Texas Ranger – für sie ein Widerspruch in sich – mit unmissverständlicher Herablassung. »Hab’n Sie sich verlaufen?« wirft ihm die vollbusige Barkeeperin in »Jeff’s Juice House« entgegen. Missy Dales Ehemann entpuppt sich als besonders eifernder Rassist, und aus Chicago fliegt die launische Witwe Wright ein, um herauszufinden, was dem Anwalt zugestoßen ist.
Darren spürt von Anfang an, dass es sich um rassistisch motivierte »Hassverbrechen« gehandelt haben wird. Seinen Verdacht erregen bald einige Männer, die sich abends in der Spelunke zusammenrotten, um ihrer rassistischen Gesinnung zu frönen. Deren Symbole haben sie sich markant unter die Haut stechen lassen: Ein Dolch, flankiert von den schwarz umrandeten Buchstaben A und B, und ein zackiges Doppel-S auf dem Handgelenk weisen sie als Mitglieder der »Aryan Brotherhood of Texas« aus. Der gefürchtete Klan der »Arischen Bruderschaft« finanziert sich durch Drogen- und Waffengeschäfte und lehrt mit seinen grausamen Morden selbst das FBI das Fürchten.
So strikt separiert die Gesellschaft des kleinen Lark auch ist, so ist sie doch auch ein komplex verwobener Mikrokosmos aus Weiß und Schwarz, irgendwie zusammengehalten durch ein Gewirr von Familienbanden und Abhängigkeiten, durch offene und heimliche Liebesbeziehungen, durch langjährige Gepflogenheiten und unausgesprochene Geheimnisse. Die Ankunft des schwarzen Anwalts ist der Zündfunke, der den seit langer Zeit brodelnden Vulkan aus Missgunst, Eifersucht und Hass explodieren lässt. Die scheinheilige Ordnung der Provinzler fliegt in die Luft, und der über Generationen angehäufte Dreck aus Unterdrückung, Demütigung, Hybris und Gewalt liegt plötzlich offen zu Tage. So muss Darren, um die richtigen Spuren zu finden, viele Schritte in die Vergangenheit der Familien und des Ortes gehen und von dort aus in die Gegenwart zurückkehren.
Attica Locke hat mit »Bluebird, Bluebird« einen spannenden, raffiniert konstruierten und wendungsreichen Kriminalroman geschaffen, der keine literarischen Kopfstände unternimmt, aber seine Südstaaten-Themen hautnah bearbeitet und nicht bei Genre-Klischees stehenbleibt. So drastisch die Autorin (1974 in Houston geboren) schildert, wie sich der plumpe, dumpfe Hass der »Aryan Brotherhood« in Gewaltakten manifestiert, so feinfühlig nimmt sie wahr, wie sich Vorurteile und Ressentiments ungeachtet der Hautfarbe in achtlos fallengelassenen Alltagsformulierungen, in Gesten und Blicken äußern. Bis in den Schluss hinein verweigert sie sich einfachen Sichtweisen. Dort stellt sie ihren tapferen Protagonisten, der stets aufrecht für die Sache der Schwarzen eintritt, vor grundsätzliche Entscheidungen: Auf welcher Seite des Gesetzes steht er? Welches Verhalten ist dann das richtige?
Verdientermaßen wurde das Buch, das 2017 veröffentlicht und jetzt von Susanna Mende ins Deutsche übersetzt wurde, 2018 mit dem renommierten Edgar Allan Poe Award für den besten Kriminalroman des Jahres und mit dem Ian Fleming Steel Dagger ausgezeichnet. Seine Handlung spielt 2016, im letzten Jahr der Obama-Administration. Was hatte die Wahl dieses Präsidenten nicht an Hoffnungen geweckt, gerade bei seinen farbigen Landsleuten! Mit seinem Nachfolger, der so viele von Obamas Leistungen mit ein paar selbstherrlichen Federstrichen tilgte, vollzog Amerika eine Rückwärtsrolle, wie Darren es selbst erfährt. Auch er »hatte stets glauben wollen, dass sie die letzte Generation waren, die so leben musste [wie ihre Vorfahren], dass der Wandel im Weißen Haus seine Wirkung entfalten würde. Doch in Wirklichkeit war genau das Gegenteil passiert. Als Folge von Obama hatte Amerika sein wahres Gesicht gezeigt.«
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2019 aufgenommen.