Rezension zu »Bluebird, Bluebird« von Attica Locke

Bluebird, Bluebird

von


Darren Mathews, Texas Ranger und Neffe des ersten Farbigen in dieser stolzen Truppe, wird in die tiefste Provinz abgeordnet, um den Mord an einem Schwarzen und einer Weißen aufzuklären. Der Ort hat keine 200 Einwohner und ist doch ein dicht verflochtener Mikrokosmos aus unverhohlenem und latentem Rassismus, in den Darren tief eintauchen muss.
Kriminalroman · Polar · · 330 S. · ISBN 9783945133712
Sprache: de · Herkunft: us

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Amerikas wahres Gesicht

Rezension vom 22.03.2019 · 8 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Darren Mathews ist ein kluger, gebildeter, engagierter Mann. Er weiß, woher er kommt und wohin er gehört. Geboren wurde er vor vier Jahr­zehnten im länd­lichen Ost-Texas, aber sein Stamm­baum reicht zurück bis in die Zeit vor dem Bürger­krieg. Zwar hat – so geht die Mathews-Legende – ein wohl­wollen­der Weißer seinen »Lieblings­sklaven« nicht nur seinen Namen, sondern auch frucht­bares Acker­land hinter­lassen, aber das änderte nichts an der Hautfarbe von Darrens Familie. Wie alle anderen Schwarzen waren sie perma­nenter Diskrimi­nierung ausgesetzt, die urplötzlich »das alltägliche Verhalten eines schwarzen Mannes in eine Sache auf Leben und Tod verwandeln konnte«. Indem sie die »alten Regeln des Lebens im Süden« beachteten, verfolgten sie ihren Weg und gelangten durch Ziel­strebig­keit und Fleiß zu Bildung, Vermögen und Ansehen, wurden Lehrer, Ärzte Anwälte.

Auch Darren hätte sein Jurastudium an der Eliteuniversität Princeton beenden und Anwalt werden können. Doch ihn hat das Vorbild seines Onkels William geprägt, des ersten farbigen Texas Rangers. Wie er wollte er als aufrechter Streiter für die Sache der Farbigen Rassis­mus und Unge­rechtig­keit im Alltag seiner afro­amerikani­schen Mitbürger bekämpfen. Als Mitglied einer Sonder­einheit des FBI Houston wird er nun zurück aufs Land beordert, um ein suspektes Verbrechen aufzu­klären, möglicher­weise »irgend so ein Rasseding«, das der ortsan­sässige Sheriff vertuschen will. Inner­halb einer Woche hat man im Shelby County zwei misshan­delte Leichen aus dem Attoyac Bayou gezogen. Michael Wright, ein schwarzer Anwalt aus Chicago auf der Durchreise, und Missy Dale hatten zu später Stunde gemein­sam die Bar verlassen, in der die Weiße als Kellnerin arbeitete.

Am Schauplatz des Verbrechens, im 178-Einwohner-Kaff Lark, stoßen trotz seiner Winzig­keit all die Kräfte aufein­ander, die seit langer Zeit das feind­selige Klima bestimmen. Die Autorin hat den fiktiven Ort direkt am US Highway 59 angesie­delt, eine »asphal­tierte Hoffnung« für viele mittel- und perspektiv­lose Farbige, die diese Nordsüd-Route nutzten, um abzu­hauen und im Norden ein besseres Leben zu suchen. Willens­starke Landbe­sitzer wie die Mathews blieben lieber und hielten den Kopf hoch. Wer weder genug Felder noch Energie hatte, musste bleiben und dulden. Solch arme Farbige (»Baum­woll­pflücker, die ihr Leben als Arbeits­sklaven gegen ein Leben mit erdrü­ckenden Pacht­schulden einge­tauscht hatten, nur ein Sprung vom offenen Feuer in die Brat­pfanne, von der Gewiss­heit der Hölle in die langsam quälende Folter der Hoffnung«) sind im Café der alten Geneva Marie Meeks direkt am Highway will­kommen. In dem merk­würdigen, seit fünfzig Jahren unverän­derten Raum voller altem Plunder bietet die farbige Besit­zerin ihren Gästen »Schwarz­augen­bohnen und Ochsen­schwanz« oder gefüllte Teig­taschen an.

Der Gegenpol zu »Geneva’s« ist die herunter­gekom­mene Kaschemme »Jeff’s Juice House« auf der »weißen« Seite des Highways, wo sich die anderen treffen, denen Ressour­cen und Initiative für einen Neuan­fang anderswo fehlen: die armen weißen Landar­beiter, ungebil­det, stock­konser­vativ, unver­hohlen rassis­tisch und hyste­risch gegen alles Fremde und Neue. Diese »Rednecks« vertreiben sich die Zeit an Poolbillard, Flipper, Dart­scheiben bei lauter Country­musik aus der Jukebox und umweht von den Flaggen der Konfö­derier­ten an den Wänden.

Während Darren in seinem Truck über die rote Erde seiner geliebten Heimat rollt, springen ihm in der lang­weilig-eintö­nigen Land­schaft provin­zielle Kuriosi­täten ins Auge: »Leucht­türme in Mais­feldern, lebens­große Leb­kuchen­häuser, eine Scheune mit Donald Trumps Gesicht darauf«, schließ­lich die »fast perfekte Nach­bildung von Thomas Jeffer­sons Landgut Monticello« nebst einer verklei­nerten Ausgabe des »Weißen Hauses« als geräu­miges Eigen­heim für einen kaum zu bändi­genden schwarzen Labrador im Garten. Das noble Anwesen ist die Residenz von Wally Jeffer­son, Spross einer Plantagen­besitzer­dynastie, auch Eigen­tümer des »Juice House«, entfernt verwandt mit dem dritten Präsi­denten der Nation und mächtig stolz darauf. Er gibt sich als distingu­ierter Boss und Kavalier alter Schule, und niemals würde er in gemischter Gesell­schaft das Wort »Nigger« benutzen.

In Lark weht Darren, der angewiesen wurde, sich in seinen Ermitt­lungen zurückzu­halten, ein eiskalter Wind entgegen. Dem orts­ansässi­gen Sheriff und seinen klaren Prinzi­pien von Recht und Ordnung darf er nicht in die Quere kommen. Die Red­necks beäugen den schwarzen Texas Ranger – für sie ein Wider­spruch in sich – mit unmiss­verständ­licher Herab­lassung. »Hab’n Sie sich verlaufen?« wirft ihm die voll­busige Barkeepe­rin in »Jeff’s Juice House« entgegen. Missy Dales Ehemann entpuppt sich als besonders eifernder Rassist, und aus Chicago fliegt die launische Witwe Wright ein, um heraus­zufin­den, was dem Anwalt zuge­stoßen ist.

Darren spürt von Anfang an, dass es sich um rassis­tisch moti­vierte »Hassver­brechen« gehandelt haben wird. Seinen Verdacht erregen bald einige Männer, die sich abends in der Spelunke zu­sammen­rotten, um ihrer rassisti­schen Gesin­nung zu frönen. Deren Symbole haben sie sich markant unter die Haut stechen lassen: Ein Dolch, flankiert von den schwarz umrande­ten Buch­staben A und B, und ein zackiges Doppel-S auf dem Hand­gelenk weisen sie als Mitglieder der »Aryan Brother­hood of Texas« aus. Der gefürch­tete Klan der »Arischen Bruder­schaft« finan­ziert sich durch Drogen- und Waffenge­schäfte und lehrt mit seinen grau­samen Morden selbst das FBI das Fürchten.

So strikt separiert die Gesellschaft des kleinen Lark auch ist, so ist sie doch auch ein komplex verwobe­ner Mikro­kosmos aus Weiß und Schwarz, irgend­wie zusam­menge­halten durch ein Gewirr von Familien­banden und Abhängig­keiten, durch offene und heimliche Liebes­beziehun­gen, durch lang­jährige Gepflogen­heiten und unaus­gespro­chene Geheim­nisse. Die Ankunft des schwarzen Anwalts ist der Zünd­funke, der den seit langer Zeit brodelnden Vulkan aus Missgunst, Eifer­sucht und Hass explo­dieren lässt. Die schein­heilige Ordnung der Provinzler fliegt in die Luft, und der über Generatio­nen ange­häufte Dreck aus Unterdrü­ckung, Demüti­gung, Hybris und Gewalt liegt plötzlich offen zu Tage. So muss Darren, um die richtigen Spuren zu finden, viele Schritte in die Vergangen­heit der Familien und des Ortes gehen und von dort aus in die Gegen­wart zurück­kehren.

Attica Locke hat mit »Bluebird, Bluebird« Attica Locke: »Bluebird, Bluebird« bei Amazoneinen spannen­den, raffiniert konstru­ierten und wendungs­reichen Kriminal­roman geschaf­fen, der keine literari­schen Kopf­stände unter­nimmt, aber seine Süd­staaten-Themen hautnah bearbeitet und nicht bei Genre-Klischees stehen­bleibt. So drastisch die Autorin (1974 in Houston geboren) schildert, wie sich der plumpe, dumpfe Hass der »Aryan Brother­hood« in Gewalt­akten manifes­tiert, so fein­fühlig nimmt sie wahr, wie sich Vorur­teile und Ressen­timents ungeach­tet der Hautfarbe in achtlos fallen­gelasse­nen Alltags­formulie­rungen, in Gesten und Blicken äußern. Bis in den Schluss hinein verwei­gert sie sich einfachen Sicht­weisen. Dort stellt sie ihren tapfe­ren Protago­nisten, der stets aufrecht für die Sache der Schwarzen eintritt, vor grund­sätzliche Entschei­dungen: Auf welcher Seite des Gesetzes steht er? Welches Verhalten ist dann das richtige?

Verdientermaßen wurde das Buch, das 2017 veröffentlicht und jetzt von Susanna Mende ins Deutsche über­setzt wurde, 2018 mit dem renom­mierten Edgar Allan Poe Award für den besten Kriminal­roman des Jahres und mit dem Ian Fleming Steel Dagger ausge­zeichnet. Seine Handlung spielt 2016, im letzten Jahr der Obama-Adminis­tration. Was hatte die Wahl dieses Präsi­denten nicht an Hoff­nungen geweckt, gerade bei seinen farbigen Lands­leuten! Mit seinem Nach­folger, der so viele von Obamas Leis­tungen mit ein paar selbst­herrli­chen Feder­strichen tilgte, vollzog Amerika eine Rück­wärts­rolle, wie Darren es selbst erfährt. Auch er »hatte stets glauben wollen, dass sie die letzte Generation waren, die so leben musste [wie ihre Vorfahren], dass der Wandel im Weißen Haus seine Wirkung entfalten würde. Doch in Wirklich­keit war genau das Gegen­teil passiert. Als Folge von Obama hatte Amerika sein wahres Gesicht gezeigt.«

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2019 aufgenommen.


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