Vom Stehlen und Schenken
Jakob hat keine guten Erinnerungen an seine Eltern. Wie die meisten TageÂlöhÂner Anfang des sechzehnten Jahrhunderts waren sie so bitterarm, dass sie ihr neugeborenes Kind ins Findelhaus bringen mussten – sie hätten es nicht erÂnähÂren können. Dann aber holte ihn sein Großvater zu sich, und es folgten ein paar schöne Jahre zusammen mit ihm. Er gab ihm ein wenig familiäre Geborgenheit, und Jakob lernte Werte und Gefühle kennen wie Vertrauen, Zuverlässigkeit, Gemeinschaft und Liebe. Als der Junge sieben Jahre alt war, starb sein Großvater. Jetzt war er sich selbst überlassen und musste sich irgendwie durchÂschlagen.
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Seitdem treibt er sich mit Lumpenpack und Diebsgesindel in dunklen Gassen und Spelunken von Freiburg herum. In der achtköpfigen Bande bewährt sich Jakob als guter Kletterer, wofür er mit dem Spitznamen »Meerkatze« bedacht wird. Eine unangenehme Wende tritt ein, als ihr umsichtiger und treusorgender »Capitan« erwischt wird und der achtzehnjährige Dickart seinen Platz einnimmt. Der neue Anführer ist hinterhältig und tyrannisiert Jakob und seine Kumpane derart, dass niemand gegen ihn aufzumucken wagt. Besonders schlimm ergeht es »Hasenköttel«, dem Kleinsten der Bande. Wegen seiner Hasenscharte und seiner undeutlichen, stotternden Sprechweise schämt er sich ohnehin, und ausgerechnet ihn nimmt Dickart sich rein spaßeshalber vor die Brust.
Eines Tages meint der Capitan seine Manneskraft beweisen zu müssen. Dafür packt er »Wespe«, HasenÂköttels dreizehnjährige Schwester, zerrt sie hinter die Friedhofsmauer, um ihr einen Kuss abzuzwingen, und grapscht ihr dabei gleich unter den »Flickenkittel«. Das ist zuviel für Jakob. »Auf die Schwachen losÂgehen, das kannst du. Nimm mich als Gegner, du feiger Hurensohn!« Ein heftiger Zweikampf bricht los – und ruft sogleich die »Scharwächter mit Laterne und gezücktem Kurzschwert« auf den Plan. Ehe Jakob die Flucht ergreift, reißt er Dickart schnell die »Geldkatze« mit den Einnahmen der letzten Diebestour vom Gürtel und nimmt daraus ein paar Münzen, die ihm zustehen, sein Anteil sind.
In Freiburg kann er unmöglich bleiben. Er macht sich auf den Weg ins nahe Straßburg. Dort will er sich bei »Passpartutt« vorstellen und ihn um Arbeit bitten. Der ist auch nur ein Gauner, eine düstere KrämerÂseele, die den ärmsten Leuten mit seiner Hehlerware den letzten Heller aus der Tasche zieht. Irgendwo wird Jakob ihn auftreiben, wo immer er sich mit den »Totengräbern und Kloakenkehrern, GriebenschinÂdern und AbÂdeckern« herumtreibt; wenn nicht am Hafen oder in einer Kneipe, dann in einem Bordell beim Jung-Sankt-Peter-Tor …
Jakob ist jetzt siebzehn, das Jahr ist 1538, und die Weihnachtszeit ist angebrochen. Starke Erinnerungen sind ihm geblieben aus seiner Kindheit, als er mit Großvater die Christmette im Freiburger Münster feierte und das »Paradiesspiel« aufgeführt wurde. Wie entsetzlich fürchtete er sich, als der schwarz bemalte beÂdrohliche Teufel Eva unterm Paradiesbaum verführte! Und auch Großvaters Geschichten sind ihm noch präsent, denen er oft lauschte, während er auf seinen Knien hockte. Eine handelte vom »Wintermaien«, einem alten Brauch der Freiburger Bruderschaften. Man steckte Buchsbaumzweige in einen Eimer und beÂhängte sie mit »Schmuckbändern, Flittergold, Früchten, Lebkuchen und anderem Naschwerk«. Am DreiÂkönigstag wurde der Strauß geschüttelt, und die zu Boden gefallenen Köstlichkeiten wurden an die Armen der Stadt verteilt.
Wie man hier in Straßburg die Christvesper zelebriert und das Fest begeht, weiß Jakob nicht. Hier herrscht ja die neue Lehre; statt der Heiligen Messe feiert man einen »Wortgottesdienst«, bei dem die Gemeinde das Evangelium in deutscher Sprache hört! Kann er überhaupt zur Kirche gehen? Denn er hat schwere Schuld auf sich geladen …
Jakob ist der Held dieser herzerwärmenden, stimmungsvollen Geschichte. Unglückliche Lebensumstände führen ihn in schlechte Kreise, doch dank seines guten Kerns findet er seinen Weg, ohne all den lauÂernÂden Gefahren zu erliegen. Am (guten) Ende fragt er sich, »womit er diese glückliche Fügung verdient hatte«. Nun, er wusste zwischen Gut und Böse zu unterscheiden; er folgte seinem Gewissen; er erwies sich der Güte und des Vertrauens, die man ihm entgegengebracht hatte, würdig – und er hatte eine gute Idee.
»Wie der Weihnachtsbaum in die Welt kam«, damit befasst sich die Autorin Astrid Fritz gleich zwei Mal. Eine fantasievolle Antwort gibt sie in der Erzählung. Im Nachwort versucht sie, der wahren Historie des WeihÂnachtsÂbaums nachzugehen. Auch wenn die Quellenlage spärlich ist, so erfahren wir auf diesen Seiten doch viel Interessantes und wahrscheinlich bisher Unbekanntes über den schönen Brauch, mitten im kalten Winter einen grünen Baum aufzustellen und mit kleinen Leckereien und strahlenden Farben zu schmücken.
Das hübsch gestaltete Bändchen ist nicht nur wegen seines anheimelnden Inhalts bar jeden Kitsches und jeder Gefühlsduselei einen Kauf wert, sondern auch wegen seiner besonders gelungenen Aufmachung. Das kleine Format mit Leinenrücken liegt schön in der Hand, wenn man sich in den Ohrensessel kuschelt und gemütlich schmökert oder einem (schon etwas reiferen) Kind vorliest; dann verweilt man immer wieder gern bei den fein säuberlichen, traditionellen Illustrationen von Andrea Offermann, die mit dem detailreich gestalteten Zeitkolorit und der sorgfältigen Sprache von Astrid Fritz’ Erzählung harmonieren.