Bluesharps in D, E, A, D
Warum sucht ein psychisch kranker Täter als Opfer seiner abartig morbiden Folterungen ausgerechnet Behinderte aus? Ist es, weil sie sich in ihrer Gutgläubigkeit schnell anderen anvertrauen und weil sie in mancher Hinsicht die Schwächsten in der Gesellschaft sind? Und warum schenkt er ihnen Mundharmonikas •"Bluesharps") in verschiedenen Tonarten?
Die Mönchengladbacher Feuerwehr bekämpft im Dohrer Busch, einem Wäldchen im Ortsteil Giesenkirchen, die übergroße Population der Eichen-Prozessionsspinner, einer Nachtfalterart, bzw. ihre zwiespältigen Produkte: Ungefähr im Mai fressen die Tierchen – dann noch im Stadium der Raupen – die Bäume kahl und überziehen die Äste mit einem feinen Fadennetz, das den Pflanzen nicht gut bekommt, aber immerhin je nach Lichteinfall durchaus reizvolle Fotomotive bietet.
Einer der Arbeiter richtet seinen Flammenwerfer auf das Laub am Boden – und schon ist es zu spät. Weggesengt ist das Gesicht einer Unbekannten, ihre Kleidung brennt, ihr ganzer Körper steht in Flammen. Die Mönchengladbacher Polizei unter Leitung von Frank Borsch und seinem Kollegen Michael Eckers, genannt Eckie, übernimmt die Ermittlungen. Zwar ist der Feuerwehrmann nicht vernehmungsfähig, doch die Ergebnisse des Pathologen hinsichtlich der Vorgeschichte sind schockierend genug: Die Frau habe noch gelebt, als der Täter sie da im Wald ablegte; dann habe er sie mit Raupen überschüttet. Deren Haare enthalten ein Eiweißgift, das für viele Menschen gefährlich ist und eine allergische Reaktion auslösen kann. An so einer Überempfindlichkeitsreaktion des Immunsystems •"anaphylaktischer Schock") sei die von Blättern überdeckte Frau gestorben.
Seit zwei Tagen wird sowohl in einer Wohngruppe als auch in einer Behindertenwerkstatt Elvira Theissen vermisst, eine Frau mit Down-Syndrom. Vieles deutet darauf hin, dass sie die Tote aus dem Dohrer Busch ist. Aber das erste Gespräch mit dem Sozialarbeiter Volker Radermacher bringt die Ermittler nicht recht weiter. Für ihn gibt es keine "Behinderten". Menschen wie Elvira sind Menschen mit besonderen Bedürfnissen, die zwar eingeschränkt, aber mobil am öffentlichen Leben teilhaben können.
Dann wird Frank Borsch mit der Post ein einzelner Finger zugestellt, und auch in einem Spargelfeld tauchen einzelne abgetrennte Finger auf. Die dazugehörige Person wird nie gefunden.
Nach diesem spannenden Einstieg bleibt der Spannungsbogen leider über mehr als 100 Seiten so flach wie die typische Landschaft am Niederrhein. Die Polizei schießt sich auf einen Tatverdächtigen ein, kommt jedoch keinen Schritt voran. Mundharmonikas, lebensgroße Puppen, seltsame, zunächst unverständliche Textpassagen und ähnliche Motive halten den Leser am Krimiplot bei Stimmung, aber schlafraubend ist das nicht wirklich. Wie bei Regionalkrimis üblich, schafft der Autor Arnold Küsters, ein Mönchengladbacher natürlich, Attraktivität für sein Buch, indem er Seite um Seite mit authentischem Lokalkolorit füllt. Wer dort lebt, wird all die Straßen, Plätze, Lokale und Brennpunkte, wo sich Alkis, Drogenabhängige, Kleinkriminelle aufhalten und auch viele Migranten anzutreffen sind, wiedererkennen und sich ganz zu Hause fühlen. Manche Protagonisten stammen sogar aus Küsters' privatem Umfeld. Selber ein Fan der Bluesharp, spielt der Autor seit zwölf Jahren in einer Band "Stixx", und da etliche Bandmitglieder •und andere Bekannte) damit einverstanden waren, zu Romanhelden zu werden, spielen sie jetzt als Kommissar oder Betreuer der Behindertenwerkstatt mit.
Auf den letzten etwa 70 Seiten legt der Autor auch für Nicht-Niederrheiner wieder einen Zahn zu: Ein Behinderter, den man an einem unappetitlichen Ort auf einen Stuhl gebunden hatte, wird tot geborgen; ein Archivar wird entführt. Schließlich wird natürlich der Täter gefasst, dessen Motive leider dem Klischee so vieler Psychothriller entsprechen – wahrscheinlich realistisch, aber eben wieder nicht originell.
Ein durchwachsenes Fazit also: Der sehr stark ortsgeprägte Krimi ist nicht aufregend, aber nett zu lesen. Es darf Sie also nicht wundern, wenn Sie demnächst, wenn die ersten Sonnenstrahlen den Rheydter Markt erwärmen, manchen hiesigen Bürger treffen, der, gemütlich im "Gregory's" sein Käffchen schlürfend, dieses Büchlein in Händen hält. Der wird bei der Lektüre bestimmt nicht in "Totenstimmung" geraten, aber sicher den einen oder anderen Passanten identifizieren – denn hier kennt jeder jeden ...
Übrigens: Die Gestaltung des Covers finde ich völlig daneben. Da schaut uns ein putziger Spatz an, der auf einem Zaunpfahl hockt – ein x-beliebiges Bildchen aus dem Internet-Fundus. Darüber steht – in Zitronengelb! – "Totenstimmung" ... Unstimmiger geht's nimmer, und obendrein liefert die gesamte Handlung keinen einzigen Bezug zu diesem niedlichen kleinen Etwas. Dabei wäre doch jedes schaurig-schöne Motiv aus den vielen Verpuppungsstadien der Thaumetopoea processionea •Prozessionsspinner) totenstimmungsvoller gewesen. Wie kann sich ein Verlag so eine optische Steilvorlage für ein attraktives Titelbild entgehen lassen? Wie kann ein Autor so einer lieblosen, kontraproduktiven Vermarktung zustimmen?