Ein Judas-Kuss und ein Marionettentanz
Am 12. Oktober 1994 wird Dr. Joachim Lichner, Psychologe, für schuldig befunden, am 25. Januar die vierjährige Juliane Körprich getötet zu haben. Er wird zu 14 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Die polizeiliche Ermittlung leiteten Hauptkommissar Bernd Menkhoff und sein junger Kollege Alex Seifert. Immer wieder hatte Lichner seine Unschuld beteuert und sogar unterstellt, man habe ihm Beweismittel untergeschoben.
Zwei Jahre nach Lichners Entlassung aus der Haft, am 22. Juli 2009, erhält Kriminalhauptkommissar Menkhoff einen anonymen Anruf: Seit Tagen íst ein Mädchen verschwunden ... Zeppelinstraße ... 1. Stock ... die Haustür steht offen ... Zwar ist er mit seinem Kollegen Seifert nach Dienstschluss auf dem Heimweg, aber dies scheint ihm eine ernst zu nehmende Meldung, die sofortigen Einsatz erfordert.
Das genannte Mehrfamilienhaus ist völlig heruntergekommen, die beschriebene Wohnungstür trägt kein Namensschild. Als die beiden Kommissare klingeln, schaut ihnen durch den schmalen Spalt der Türöffnung ein bekanntes Gesicht entgegen: das des Psychologen und vorbestraften Kindermörders Dr. Joachim Lichner. Widerwillig gewährt er ihnen Zugang zu seiner Wohnung. Seltsam: Die ganze Bude ist ein einziger Saustall – bis auf ein kleines Zimmer, das völlig leergeräumt und in Pastellfarben frisch gestrichen ist. Lichner gerät sofort wieder unter Verdacht.
Aus der Sicht Alex Seiferts erzählt der Roman sehr detailliert und analytisch die beiden Handlungsstränge: Da ist einerseits der abgeschlossene Kriminalfall, der im Januar 1994 begann und mit der Urteilsverkündung am 12. Oktober 1994 endete, und andererseits der am 22. Juli 2009 eintretende Fall, der binnen drei Tagen aufgeklärt wird.
Seifert ist erst 23 Jahre alt, als er bei der Kripo beginnt. Der Mord an der vierjährigen Juliane, die man im Wald gefunden hat, erwürgt und in einer Tüte entsorgt, war sein erster Fall. Damals übermannten ihn beim Anblick der kleinen Leiche die Gefühle. Doch sein Vorgesetzter Menkhoff erteilte seinem Junior die Lektion, so etwas dürfe er absolut niemals zulassen, denn sonst verliere er den neutralen Blick und übersehe die Details.
Seifert war damals also noch ein Grünschnabel und hätte es nie gewagt, dem immer schlecht gelaunten Sturkopf Menkhoff, der keinen Widerspruch duldet, seine tiefen Zweifel an Lichners Schuld entgegen zu halten. In dieser Zwickmühle war er nahe daran, seinen Job hinzuschmeißen. Und nun erlebt er, wie Menkhoff sich gleich mit der ersten Begegnung in der Zeppelinstraße voller Hass auf Lichner einschießt, ihn erneut einer Tat verdächtigt. Nichts kann ihn auch nur ansatzweise von seiner vorgefassten Meinung abbringen; seine Gefühle machen ein objektives Ermitteln unmöglich ...
Auch dieses Mal hätte Seifert gern Menkhoff seine Meinung gesagt, aber die Situation verändert sich dramatisch, als die kleine Luisa, Menkhoffs Tochter, aus ihrem Kindergarten entführt wird. Jetzt überschlagen sich die Ereignisse im Minutentakt. Die Spannung steigt bis zum Zerreißen.
Nicole Klement, eine psychisch kranke Frau, ist seit den 90er Jahren Dr. Lichners Patientin. Sie ist ihm hörig und besucht ihn sogar, während er im Gefängnis einsitzt. Menkhoff lernt sie kennen und kann sich ihrer besonderen Ausstrahlung und Anziehungskraft nicht entziehen. Zwei Jahre dauert ihre Beziehung, die angesichts ihrer Krankheit bedrückend verläuft. Ein "Wesen", das schwer zu fassen ist, eine rätselhafte Person – aber kann man ihr eine Kindesentführung zutrauen?
Das alles ist in atemberaubender Weise gestaltet. Hin- und hergerissen bei dieser Achterbahnfahrt fast ohne Halt, kann man das Buch jetzt nicht mehr zur Seite legen. Ist Lichner schuldig – oder vielleicht doch nicht? Fühlt sich der clevere Psychologe verraten? Führt er die Schnüre seiner Marionetten zum Rachetanz? Und auch auf der anderen Seite, der des "Rechts", wird Menkhoffs Besessenheit schier unerträglich. Die Ereignisse überstürzen sich in rasantem Tempo ...
Mit diesem echten Schocker über ein "Wesen", das nicht aus seiner Haut kann, hat Arno Strobel einen wahnsinnigen Psychothriller abgeliefert – er ist noch besser als sein erster!