Rezension zu »Der alte König in seinem Exil« von Arno Geiger

Der alte König in seinem Exil

von


Belletristik · Hanser · · Gebunden · 189 S. · ISBN 9783446236349
Sprache: de · Herkunft: de

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Rezension vom 22.02.2011 · 76 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Alzheimer – ein aktuelles Thema in allen Medien – ist eine Krankheit, die sich in unserer immer älter werdenden Gesellschaft wie eine vielarmige Krake ausbreitet, den Einzelnen packt und nicht mehr loslässt – und die bei den meisten Menschen, die über ihr Alter nachdenken, ein Gefühl hilfloser Angst hinterlässt: "Hoffentlich bleibt meine Familie davon verschont. Eher möchte ich sterben, als so ein Elend mitzumachen."

Bei der Lektüre von Arno Geigers Buch über seinen dementen Vater habe ich dieses Gefühl allerdings in keiner Zeile verspürt. Auf dem Cover blicken wir aus der Krone eines lichten, sattgrünen, reichbeblätterten Baumes wie aus einem schützenden Laubdach hinunter auf einen ergrauten, leicht gebeugten alten Mann, der in sich versunken mit einem freundlichen Gesicht zu Boden blickt. Das dominierende Grün symbolisiert Hoffnung und Vertrauen, das Ensemble vermittelt Ruhe, Frieden und Geborgenheit.

Der Titel "Der alte König im Exil" ist eine wunderbare Metapher, die die Situation des Vaters illustriert. Dem König bleiben Ehre und Würde, doch ist er im Exil nicht mehr an der Macht; seine Regierungsgeschäfte werden Vertraute für ihn übernehmen.

Arno Geiger begleitet seinen Vater in erzählenden Textabschnitten, die durchbrochen werden von Zwiegesprächen zwischen Vater und Sohn und kurzen Berichten anderer Menschen über ihre persönlichen Erfahrungen mit einem dementen Verwandten. Auf den letzten ca. 20 Seiten kann man keinen Handlungsfaden mehr finden. Die Gedanken springen assoziativ, folgen keiner logischen Struktur, befassen sich mit unterschiedlichsten Gegenständen ("Das Glück, das mit der Nähe zum Tod eine besondere Dichte erhält. Dort, wo wir es nicht erwartet hätten." S. 179). Die strukturelle Auflösung spiegelt den geistigen Verfall im Krankheitsverlauf.

August, Arnos Vater, ist verstört, irritiert, panisch, wünscht inständig und immer wieder, endlich nach Hause gehen zu dürfen. Vergebens versichert ihm sein Sohn, dass er das Haus, in dem er jetzt wohnt, doch selber gebaut habe: Das Exil des alten Königs ist irreversibel.

August Geiger wurde 1926 als drittes von zehn Kindern geboren. Er zieht in den Krieg, gerät in Gefangenschaft, kommt dann in sein österreichisches Dorf Wolfurt zurück und will es nie mehr verlassen. Nicht einmal zu einer Hochzeitsreise ist er bereit. Er arbeitet als Beamter in der Gemeindeverwaltung; in seiner Freizeit werkelt er gern, und den Anbau am Haus, in dem die Familie untervermietet, erbaut er selber. August ist ein verschlossener Eigenbrötler; Gefühle zu zeigen entspricht nicht seinem Charakter. Diese Unfähigkeit, bedauert der Sohn, habe er an die nächste Generation weitergegeben.

Mit seiner Frau – fünfzehn Jahre jünger als er – hat er neben Arno noch drei weitere Kinder. Nach dreißig Jahren verlässt sie ihn. Drei Jahrzehnte lang hatte sie ihre völlig unterschiedlichen Vorstellungen von Glück ausgehalten. Sie fühlte sich nicht, so wie August, an ein Versprechen gebunden.

Arno ist zieht fort und studiert. Als er seinem Vater mitteilt, Schriftsteller werden zu wollen, sagt der: "Der Finger in der Nase dichtet auch." (S. 65) Das ist Augusts typische Art, Witz und Weisheit auszudrücken – "Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen." – "Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter." (S. 11) Vater und Sohn entfremden sich einander mehr und mehr, bis nach Jahren nur noch Desinteresse und Ignoranz ihre Beziehung prägen. Umso außergewöhnlicher ist es, dass sie durch die Krankheit wieder Nähe aufbauen können. Arnos Wahrnehmung ist geschärft. Jede Phase der Krankheit, jeder Moment des gedanklichen Chaos, des Starrsinns, der Fröhlichkeit, der Aggressivität bereichert ihn. Geben und Nehmen sind nicht mehr in der Waage. Dem Sohn ist bewusst, dass der Vater nicht festhalten kann, was er ihm gebe, wohingegen er – als Nehmender – alles aufsauge, alles auf ihn einströme, sich "verbreite" wie "ein starkes Licht um mich her" (S. 179).

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Da ist kein Wehklagen über den verfallenden Vater, kein Jammern über die große Belastung, keine entwürdigende Beschreibung. Wie oft hört man, der Demente werde wieder zum Kind. Arno ärgert dieser Satz, und er stellt ihn richtig: "Ein erwachsener Mensch kann sich unmöglich zu einem Kind zurückentwickeln, da es zum Wesen des Kindes gehört, dass es sich nach vorne entwickelt." (S. 14) Das Buch gibt Anreize, neu über diese Erkrankung nachzudenken, sie positiver einzuordnen. Stellenweise ist es amüsant zu lesen, wenn aus den Sätzen des Vaters Originalität, Surrealität, Bizarrheit blitzen ("Wo ist mein Gehirn?" – "Unter dem Hut." – "Das wäre ein Wunder." S. 130) , und es ist keineswegs überzogen, dass der Autor den Vergleich mit Figuren von Franz Kafka oder Thomas Bernhard wagt: "Ich bin einer, der nichts mehr zu melden hat. Da ist nichts mehr zu machen." (S. 114) Vielleicht ist solch heitere Gelassenheit die beste Art, mit Unabwendbarem umzugehen.

Mit seiner schlichten, zurückhaltenden Beschreibung hat Arno Geiger mit seinem Vater Frieden geschlossen. Er lässt ihn unverfälscht er selbst sein – ein ehrliches und deshalb überzeugendes Verfahren. Nach Zeiten der Entfremdung und gegenseitigen Unkenntnis vermag der Autor, eine dankbare Liebeserklärung an seinen Vater verfassen – ohne Seitenhiebe. Als einen der letzten Eindrücke hält er fest: "Oft ist es, als wisse er nichts und verstehe alles." (S. 186)

Arno Geigers Roman "Der alte König im Exil" hat sich für mich als kleines "großes" Büchlein zu einem Thema, das uns alle angeht, herausgestellt.


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