Aus der Höhle in die Sonne treten
Die Ära der Hoffnung wurde schon nach kurzer Zeit brutal zerschlagen. Mit einem Militärputsch entmachtete General Augusto Pinochet am 11. September 1973 den charismatischen Präsidenten Salvador Allende, der nur drei Jahre zuvor demokratisch gewählt worden war. Auf dem Sozialisten hatten die Erwartungen vieler geruht, den USA aber war er ein Dorn im Auge. Es folgten siebzehn Jahre der Diktatur, die Pinochet durch Menschenrechtsverletzungen aller Art - politische Morde, grausame Folter und das spurlose Verschwindenlassen politischer Gegner - sowie durch Indoktrination der Bevölkerung zementierte.
Erst 1988 bahnte sich nach gewissen Lockerungen ein möglicher Umschwung zur Freiheit an, als eine in der Verfassung von 1980 verankerte Volksabstimmung anstand. Niemand in Pinochets Junta rechnete damit, dass sich das über Jahre an seine Unterdrückung gewöhnte Volk gegen sie wenden würde. Doch bei einer Beteiligung von über 90 Prozent setzten 54 Prozent der Abstimmungsberechtigten die Aufstellung mehrerer Kandidaten und somit freie Wahlen durch. Am 11. März 1990 wurde Patricio Aylwin Chiles neuer Präsident. Pinochet wurde 1998 während eines Besuchs in Großbritannien verhaftet und angeklagt, starb aber 2006, ehe es zu einer Verurteilung kommen konnte.
Antonio Skármetas Roman "Los días del arcoíris" , den Stefanie Gerhold übersetzt hat, thematisiert die Vorbereitung des Plebiszits von 1988: Wie kann eine terrorisierte, in Hoffnungslosigkeit und Lethargie versunkene Öffentlichkeit ermutigt werden, für ihre eigenen Interessen aktiv zu werden?
Die Initiative geht freilich zunächst von der Seite aus, die ihre Macht für weitere Jahre sichern will. Pinochets gefürchteter Innenminister und Chiles zweiter Mann, Dr. Fernandez, bestellt Adrián Bettini, den besten Werbefachmann des Landes, im Februar in den Regierungspalast. Fernandez bietet Bettini an, die Pro-Pinochet-Kampagne ("Ja") zur Volksbefragung im Oktober zu leiten, und unterfüttert sein Ansinnen mit einem beträchtlichen Honorar.
Bettini kann kaum glauben, dass ausgerechnet er in die Dienste der Regierung gelockt werden soll. Als Sozialist ist er nicht nur seit Allendes Sturz arbeitslos, sondern auch Repressalien ausgesetzt gewesen; er wurde verhaftet und gefoltert, sein Schulterbein wurde gebrochen. Bettini bleibt sich treu; das Angebot des Ministers lehnt er ab.
Zuhause wird Bettini schon erwartet. Der christdemokratische Oppositionsführer Don Patricio Aylwin ist beauftragt, ihn für die Werbekampagne zu gewinnen, die die Concertación de Partidos por el No plant - die soeben gegründete Aktionsgemeinschaft der 17 freien Parteien für das "Nein zu Pinochet". Er soll einen fünfzehnminütigen Fernsehspot entwickeln.
Bettini ist skeptisch. Die Menschen im Lande sind "ideologisch vergiftet", abgestumpft, gleichgültig sogar ihrem eigenen Leben gegenüber. Was kann da schon ein Werbefilmchen bewirken, das untergeht im Strom einer TV-Maschinerie, die mit dümmlichen Spielshows, Filmen von vorgestern, zensierten Nachrichten und unablässiger Werbung nur einem Zweck dient: die gesamte Bevölkerung zu betäuben? Doch schließlich will er sich dem guten Anliegen nicht verweigern.
Er gründet eine Produktionsfirma, und man macht sich an die Arbeit, denn es bleiben nur 30 Tage Zeit. Aber leider bleiben innovative Ideen, wie den Menschen wenigstens ein Lächeln zu entlocken sei, aus, ganz zu schweigen von der zündenden Vermittlung eines positiven Lebensgefühls. Da wird eines Tages Raul Alarcón vorstellig, ein kleinwüchsiger Dichter und Komponist. Er habe von der "¡No!"-Kampagne gehört und biete das passende Lied mit Text dazu. Ob es hier ein Klavier gebe? "Habemus", antwortet Bettini, und schon haut der überdrehte Kauz die stürmische Interpretation einer Melodie in die Tasten, die jeder kennt und seiner Meinung nach dennoch - oder gerade deswegen - jeden mitreißen werde: "An der schönen blauen Donau" von Johann Strauß. Aus vollster Kehle intoniert er ein hinreißendes Liedchen, dessen Text hauptsächlich aus dem Wörtchen "Nein" besteht.
Dass diese Lachnummer, der Bettini nicht die geringste Chance einräumt, für die er sich im Innersten sogar schämt, am Ende tatsächlich die Menschen erreicht, so dass sie auf den Straßen dazu tanzen, und wie sie David dazu verhilft, den Kampf gegen Goliath zu gewinnen - das ist der eine Handlungsfaden in Antonio Skármetas Roman.
Gleichzeitig verfolgen wir einen zweiten Strang: Nico Santos' Schulalltag. Nico steht im Abschlussjahr der Oberschule, wo sein Vater ihn und seine Mitschüler in Philosophie unterrichtet. Auch hier entgeht dem politischen Regime nichts, denn ein Armeeoffizier ist Schulleiter. Eines Tages wird der Lehrer vor den Augen seiner Schüler abgeführt. Der Stein des Anstoßes war seine Behandlung von Platons Höhlengleichnis, das er anspielungsreich im Hinblick auf seine chilenische Gegenwart interpretierte: "Nur wenn [die - wie Zombies lebenden - Menschen] aus der Höhle herauskämen und die Welt im Licht der Sonne sähen, würden sie erkennen, dass sie in einer Welt der Erscheinungen gelebt haben und dass das, was sie für echt hielten, nur ein blasser Widerschein der Wirklichkeit war."
Da eine Verhaftung wegen falscher Geisteshaltung "in diesen Zeiten nichts Ungewöhnliches" ist, war Santos vorbereitet; er hatte mit seinem Sohn abgesprochen, welche Taktiken der verfolgen sollte, je nachdem, ob die Festnahme etwa vor Augenzeugen erfolgte oder nicht. In diesem Fall (Plan "Barock") sollte Nico z.B. Ordensleute der Kirche kontaktieren, die sich dann kümmern würden. Die Grundregel, auf der der Vater bestand, lautete jedoch, dass sein Sohn sich nie einer Gefahr aussetzen dürfe, sich vielmehr immer aus allem heraushalten müsse.
Nico gerät, diesen Regeln folgend, in einen Konflikt. Die ohnmächtige Angst um seinen Vater lässt ihn verzweifeln; zur Passivität angehalten, werfen ihm seine Klassenkameraden Feigheit vor. Doch als man den beliebten Señor Paredes, Englischlehrer und Leiter der Theatergruppe, abführt und er später erdrosselt aufgefunden wird, schweigt Nico nicht länger. Bei Paredes' Beerdigungsfeier tritt Nico ans Rednerpult. Er zittert vor Angst, aber mit Hilfe der Techniken, die Paredes ihm beigebracht hat, gelingt es ihm, eine Rede zu halten, die die Zuhörer tatsächlich zu vorsichtigem Protest ermutigt.
"Die Tage des Regenbogens" sind eine höchst vielfältige, vielschichtige Lektüre. Inhalte und Stimmungen wechseln, und der Leser fühlt sich ebenso unsicher wie die Protagonisten: Was ist Humor, was bitterer Zynismus? Was ist Realität, was Fiktion? Trägt nicht jeder kleine Hoffnungsschimmer zugleich die Gefahr in sich, brutale Repressionen auf sich zu ziehen? Während die Handlung um die Werbekampagne bisweilen groteske Züge annimmt, wird anderswo mit Schlagstöcken zugeschlagen, unschuldiges Blut vergossen. In einem Land, in dem der Tod täglich an jede beliebige Tür klopfen kann, in dem Menschen spurlos und für immer verschwinden, vermag das schlichte Symbol des Regenbogens den Impuls zur Überwindung des totalitären Systems zu transportieren.
Antonio Skármetas Sprache ist schlicht. Er reiht kurze, aber aussagestarke Sätze aneinander, die Dialoge laufen ohne jegliche Vermittlung ab. Es sind allein die Inhalte, die faszinieren, schockieren, nachdenklich stimmen. Nach Señor Paredes' Verschwinden wendet sich Nico bei einer Theateraufführung öffentlich an den Schulleiter-Offizier und bittet ihn mutig, seinen Rang und Einfluss geltend zu machen, um ihn zurückzuholen. Als Paredes tot aufgefunden wird, erhält Nico des Leutnants zynisch-mehrdeutige Replik: "Du hast mich darum gebeten, und Gott weiß, dass ich getan habe, was ich tun konnte."
Während der Plot um die Werbekampagne die Praxis des Widerstandes zeigt, liefert der zweite Handlungsstrang eine breite intellektuelle Folie. Indem Skármeta die Entwicklung der Jugend unter dem Einfluss ihrer Lehrer abbildet, werden immer wieder Passagen aus Shakespeare-Dramen und anderen literarischen Werken zitiert und interpretiert, und eine Vielzahl von Philosophen kommen zu Wort. Die Texte verbindet, dass sie sich mit Fragen der Machtausübung und des Widerstandes befassen.
Der chilenische Schriftsteller Antonio Skármeta (*1940) fand schon 1984 mit seinem Roman "Mit brennender Geduld" weltweite Anerkennung; das Buch über Pablo Neruda, die Macht der Poesie und Anfang und Ende der Allende-Zeit wurde 1994 unter dem Titel "Der Postmann" ("Il Postino") verfilmt. Auch sein neuester Roman "Los días del arcoíris", ausgezeichnet mit dem Premio Planeta-Casamérica, wurde in einen erfolgreichen Film umgesetzt: "¡No!" war 2012 als "Bester ausländischer Film" für den Oskar nominiert und läuft gerade in unseren Kinos.