Wie wir die Sümpfe bezwangen
"Und nun raten Sie mal, wer am nächsten Morgen am Bahnhof von Littoria stand ... - Sie müssen mir schon glauben, sonst lassen wir es besser gleich. Ich erfinde nichts. - Wie bitte, was sagen Sie? Was das Imperium war? Nun, so richtig habe ich das auch nicht begriffen. - Was wollen Sie denn? Kommen doch nächstes Mal Sie und legen die Pontinischen Sümpfe trocken!"
In diesem Ton - jovial, respektlos, herzerfrischend, trocken - plaudert der Erzähler dieses umwerfenden Romans mit dem Leser und führt ihn am engen Zügel. Er ist ein begnadeter Rhetoriker, der Zweifel und Einwände seines Zuhörers zulässt oder antizipiert, aber nur, um sie umgehend im Keim zu ersticken und seiner eigenen Version Nachdruck zu verschaffen. Moderne political correctness ist ihm fremd - er nimmt kein Blatt vor den Mund. Er ist sich darüber im Klaren, dass er trotz seines phänomenalen Gedächtnisses und politischen Durchblicks nicht alles erklären kann, aber er hat zu allem eine redliche Meinung. Ihm lesend zuzuhören ist schlichtweg ein Vergnügen.
Wer dieser Herr ist, darüber lässt uns der Autor bis zur letzten Seite rätseln. Was er uns vorträgt, ist das über drei Generationen reichende Epos seiner Familie; es ist aufs Engste verknüpft mit den frühen Jahren des italienischen Faschismus und mit einem gigantischen Prestige-Unternehmen des "Duce" Benito Mussolini: der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe, einer Ebene von fast 800 Quadratkilometern am Tyrrhenischen Meer südöstlich von Rom, seit der Antike malariaverseucht und quasi unbewohnbar.
An dem Projekt hatten sich schon viele die Zähne ausgebissen, doch alle - selbst Julius Caesar und Napoleon - scheiterten. Mussolini begann 1928 ein Arbeitsbeschaffungsprogramm aufzulegen, um im Agro Pontino ein Entwässerungssystem mit einem zentralen Kanal ("Canale Mussolini") auszuheben, neues Agrarland zu gewinnen und zu besiedeln und neue Städte anzulegen. Dazu lockte er insbesondere arme Familien aus der Emilia-Romagna, dem Friaul und dem Veneto (im Norden Italiens). Dort waren Tausende Kleinbauern schon seit Langem von den Großgrundbesitzern ausgebeutet und in Schulden getrieben worden. Als Mussolini 1927, um die italienischen Außenbilanzen vor dem Kollaps zu retten, den Wechselkurs Lira/Dollar willkürlich festlegte, wurden die Schulden der "Halbpächter" unbezahlbar, und sie waren gezwungen, ihr Land an die Eigentümer zurückzugeben. Nun präsentierte sich der "Duce" als Retter der Enteigneten und Verelendeten, an deren Misere er doch selbst mitgewirkt hatte. Ein Komitee sprach jeder Familie einen Hof und 6 Milchkühe zu. Bewerben durften sich nur Bauern und Familien mit mehr als 10 Kindern sowie einem männlichen Wesen, das im 1. Weltkrieg für Italien gekämpft hatte.
Binnen drei Jahren ergriffen 30.000 Menschen die Chance ihres Lebens, um dem Hunger zu entfliehen, und verließen ihre Heimat. Viele von ihnen waren keineswegs Bauern, sondern Friseure, Schuhmacher oder Tagelöhner, die sogar Papiere gefälscht hatten, um abhauen zu können. Ihnen mussten erst Grundkenntnisse in Landwirtschaft und Viehzucht beigebracht werden, weswegen der Start des propagandistisch ausgeschlachteten Agrarprojekts etwas schwierig verlief. Unterm Strich aber war die Aktion erfolgreich, wie man heute noch besichtigen kann.
Eine der beteiligten Familien sind die Peruzzi, die ihr Gehöft, das Podere 517, an der Parallela Sinistra beziehen, der Straße direkt am Canale Mussolini. Auch sie waren in der alten Heimat Ausgebeutete gewesen ("verflucht seien die [Grafen] Zorzi Vila") und hatten mit sozialistischen Ideen sympathisiert. Doch erst der "Duce" vermag ihr Leben zu verändern - wofür ihm ihre Solidarität sicher ist.
Um ganz dicht dran sein zu können an den gesellschaftlichen, politischen und kriegerischen Entwicklungen der Zeit rückt der Autor "seine" Großfamilie Peruzzi hautnah ans zentrale Personal: Onkel Pericle sitzt mit dem jungen Radikalsozialisten Mussolini im Gefängnis ein; sie werden Freunde, und fortan ist der aufstrebende Politiker gern zu Gast im Hause Peruzzi. Dort wirft er sogar ein Auge auf die Frau des Clanchefs und tut ihr gern manchen Gefallen; zum Beispiel repariert er - Sohn eines Schmieds - ihre Egge. Natürlich zieht er damit den Zorn des Ehegatten auf sich und die junge Frau: "Du dreckige Hure," beschimpft der sie dann am Abend.
Aus der Nahsicht erleben wir mit, wie die kleinen Leute zu unideologischen Mitläufern des Faschismus werden. Kämpft Großvater Perruzzi - ein Sozialist der ersten Stunde - vor dem 1. Weltkrieg noch gegen die Großgrundbesitzer, folgen seine Söhne alsbald dem Duce. Dass sie einem totalitären System die Steigbügel halten, erkennen sie nicht. Sie ziehen die schwarzen Hemden an, melden sich freiwillig für den Krieg, kämpfen 1935 in Abessinien, verteidigen später ihr Land gegen die Alliierten: "Ein Peruzzi gibt nie auf." Nach deren Sieg wechseln sie schnell die Kleidung und werden Demokraten. Auch rückblickend urteilen sie pragmatisch ("Freiheit hat es in Italien nie gegeben, was sollte der Faschismus da abschaffen?") und unpolitisch ("Dass Mussolini abstinent gewesen sein soll, ist auch so ein Quatsch ... Bei den Peruzzi trank er, und wie.").
Der Alltag des Faschismus wird hier auf faszinierende, oft amüsante Weise erzählt, weder heroisiert noch verharmlost.
Die vielen Mitglieder der Peruzzi-Familie - insbesondere ihre Frauen - begeistern als die wahren Helden des Romans. Sie sind "alle ein bisschen verrückt", ihre Dialoge sind direkt, drastisch, derb, voller Zoten und Anspielungen. Wenn Großmutter des Nachts von einem schwarzen Mantel träumt, deuten sich große Gefahren an. Schwiegertochter Armida spricht mit ihren Bienen, die sie gegen den heftigen Widerstand aller Verwandten aus dem Veneto in die Pontinischen Sümpfe mitgenommen hat, und sie bleiben ihr als treue Begleiter, als die Familie sie am Schluss des Romans verstößt.
Antonio Pennacchi, der 1950 in Latina (einer der von Mussolini im Agro Pontino gegründeten città nuove) geboren wurde, hat mit seinem grandiosen Roman ein facettenreiches Epos geschaffen, das die kleinen Leute ganz groß rauskommen lässt und gleichzeitig ein weitreichendes, differenziertes, detailreiches und akribisch recherchiertes Bild italienischer Geschichte ausbreitet. Mit vollem Recht wurde es 2010 mit dem renommierten italienischen Literaturpreis Premio Strega ausgezeichnet. Jetzt ist bei Hanser die deutsche Fassung erschienen, hinreißend kongenial übersetzt von Barbara Kleiner, die 2011 den deutsch-italienischen Übersetzerpreis erhielt.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher aufgenommen.
Die italienische Originalausgabe ist 2010 bei Mondadori erschienen: Antonio Pennacchi: "Canale Mussolini".